Zu unserer Osterkerze: Das Kreuz als Baum des Lebens
Die Osterkerze, die uns ab dem Osterfest für ein Jahr in der Auferstehungskirche begleiten wird, trägt ein besonderes Motiv: einen grünenden Baum, der sich über dem erdig-dunklen Grabhügel erhebt. Sein Stamm und seine Äste sind gleich dem Kreuz ausgestreckt zwischen Erde und Himmel. Das ist wohl eines der stärksten Bilder dafür, wie das Leben über den Tod siegt.
Das Kreuz und der Lebensbaum sind eins.
Darstellungen dieses Ineinander-Verwoben-Seins beginnen in der christlichen Ikonographie spätestens ab dem 5. Jahrhundert und lassen sich das gesamte Mittelalter hindurch finden.
Über viele Jahrhunderte hindurch hatten Menschen ein besonderes Gespür dafür, dass die Botschaft des Kreuzes in ihrem Kern genau dasselbe meint wie der biblische „Baum des Lebens“. Jener Baum, einst gepflanzt im Paradies und dereinst erhofft am selben Ort am Ende der Zeiten. So heißt es in Gen 2,9: „Und der HERR, Gott, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ – und im letzten biblischen Buch der Offenbarung 2,7: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist.“
Dazwischen liegt die gesamte Geschichte Gottes mit uns Menschen.
Dazwischen leben wir.
Um das Bild vom Baum des Lebens besser zu verstehen, brauchen wir noch die Erinnerung daran, was weiters im ersten Buch der Bibel über jenen Baum geschrieben steht:
Wer seine Hand ausstrecke und von ihm esse, der lebe ewig (Gen 3,22).
Mit der Auferstehung unseres Herrn springt die Türe der Grabkammer auf, und ein Blick fällt vom ursprünglichen zum künftigen Paradies:
Weil Gott selbst den Tod endgültig überwunden hat, liegt der Baum des Lebens frei vor uns. Da ist keine Mauer mehr dazwischen, nicht einmal die des Todes. Jesus Christus hat den Tod in seiner hingebenden Liebe zu allen Menschen überwunden – in dem er selbst dem Tod nicht ausgewichen ist, sondern ihn für uns auf sich genommen hat, am Holz des Kreuzes.
So ist das Kreuz selbst zum Lebensbaum geworden.
Das ist die Frohe Botschaft, das Evangelium, das wir zu Ostern feiern,
und von da ab an jedem Sonntag als Tag der Auferstehung
und immer dann, wenn wir in unserem Kirchenraum im Namen des dreieinigen Gottes zusammenkommen.
Deswegen leuchtet die Osterkerze in jedem Gottesdienst, wenn wir die Rettung aus dem Tod feiern.
Seit der frühen Kirche gehören Lieder zu diesem Feiern, und so manche von ihnen besingen das Ineinander von (Lebens)Baum und Kreuz: So heißt es etwa in dem Hymnus „Crux fidelis“ (um 600): „Heilig Kreuz, du Baum der Treue, edler Baum, dem keiner gleich, keiner so an Laub und Blüte, keiner so an Früchten reich.“ Ein gutes Jahrtausend später entstand dann ein Liedtext, den wir unter der Nummer 216 in unserem methodistischen Gesangbuch finden: „Du schöner Lebensbaum des Paradieses, gütiger Jesus, Gottes Lamm auf Erden.“ (Text: Imre Pécseli Király, reformierter Pastor aus Ungarn). Sicher werden wir in den Tagen hin zum Osterfest auch wieder das Lied Nummer 222 miteinander singen: „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht.“ (Text: Willem Barnard NL 1963).
Wenn wir mit unseren Gesangbüchern in den Händen vor unserer Osterkerze sitzen, dann sind wir in unserer Auferstehungskirche immer auch verbunden mit allen anderen, die Jesu Tod und Auferstehung feiern. Als Christinnen und Christen sind wir miteinander mit all jenen verbunden, die vor uns gekommen sind und mit denen, die nach uns kommen werden. Das österliche Bild vom Baum des Lebens verzweigt sich weiter, spricht vom Reich Gottes. Auch dazu eine Liedstrophe aus unserem Gesangbuch (EM 49, 2. Strophe): „Herr, dein Reich wächst hier auf Erden, wie des Lebens ewiger Baum: Gottes Sohn ist Stamm und Wurzel, wir die Zweige an diesem Baum“. (Kim Chai Choon, vor 1950).
Wenn wir als Gemeinde in unserer Kirche zusammenkommen, dann geschieht das immer in dieser Verbundenheit, die aus dem Ostergeschehen lebt. Davon lässt sich singen, wie in den Liedern aus unseren und vielen anderen Gesangbüchern – oder auch erzählen, wie das beispielweise die Autorin Marie Luise Kaschnitz, aufgewachsen in Potsdam und Berlin, tut. In ihrem Hörspiel „Das Spiel vom Kreuz“ (1953) lässt sie einen der Jünger Jesu aussprechen: „Die eigentliche Kirche ist nicht aus Stein. Das eigentliche Kreuz ist kein totes Ding. Es ist ein Baum, der bis an die Wolken wächst und Blüten und Früchte trägt. Unzähliges Volk umgibt ihn und badet in dem Quell, der zu seinen Füßen entspringt. Siehst du nicht, dass die Bäume des Gartens Eden ihre Wurzeln aus der Erde ziehen und daß die Sträucher ihre Zweige wie Flügel gebrauchen?“
Diesen Blick wünsche ich uns allen – zum Osterfest und immer, wenn wir auf unsere Osterkerze schauen!
Herzlich,
Anja Müller (Pastorin)