In meiner Zeit in Graz, in der schönen Steiermark, da nahm ich an einer Fortbildung für Wissenschaftlerinnen teil. Als wir uns zum ersten Mal in der großen Gruppe trafen und eine Vorstellungsrunde hinter uns gebracht hatten, da sollten wir uns in Kleingruppen zusammensetzen und nur von dieser kurzen Begegnung jeweils reihum einander sagen, was wir wahrnehmen, was wir glauben, wie die anderen sind. Es war ganz erstaunlich, dass teilweise Dinge gesagt wurden, die 100%ig stimmten, manche waren natürlich auch total daneben und bei Anderem, da habe ich mir gewünscht, ich wäre so. In dieser Situation wurde mir nochmal deutlich, dass der erste Eindruck, den wir auf andere machen und die Art und Weise, wie sie uns wahrnehmen, ziemlich außerhalb unserer Kontrolle liegt. Wie andere mich sehen, einschätzen und wieviel sie von mir kennen und wissen, bestimmt, welches Bild sie von mir haben.
Das Bild einer Person stellt sie aber natürlich nie in ihrer kompletten Persönlichkeit dar, sondern betont einzelne Aspekte, die wiederum der Person wichtig sind, die uns da wahrnimmt. Und manchmal, ja, manchmal, da wissen wir eigentlich gar nicht so recht, was wir über jemanden denken sollen. Der verhält sich einfach in vielfältiger Weise anders als wir es gewohnt sind oder es auch wollen. So ging es Jesus auch.
Der Evangelist Matthäus berichtet, dass Jesus schon eine Weile im Lande Israel unterwegs war, vornehmlich in der Gegend um Galiläa. Er heilte die Menschen, predigte in Synagogen mit Vollmacht, machte tausende Menschen satt und stillte den Sturm auf dem See. Die Jünger, die ständig bei ihm waren, wussten aber trotzdem nicht immer so recht, wer Jesus eigentlich war. Die meiste Zeit staunten sie über ihn oder wussten gar nicht, was sie mit all dem, was er sagte und tat, anfangen sollten.
Aber in dieser Szene, in der Jesus seine Jünger fragt: "Wer sagt denn ihr, dass ich sei?", fragt er sie zuerst, was denn die Leute so über ihn sagen.
Und da kommt eine ganze Auswahl an Wahrnehmungen und Eindrücken von Jesus wie aus der Pistole geschossen. Die Jünger sagen: "Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten." An diesen Aussagen ist eines zumindest sicher abzulesen: die Mehrheit der Menschen, die Jesus kennengelernt oder von ihm gehört haben, halten ihn für einen Propheten. Einen Seher. Einen, der mehr sieht als andere. Einen, der Botschaften von Gott empfängt und an das Volk Israel weitergibt, meist aus dem Bereich Umkehr, Benennung der Dinge, die falsch laufen, Gerichtsankündigungen, Aufruf zur Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit usw. begleitet von Wundertaten (wobei dies nicht von allen Propheten berichtet wird). Dieses Profil scheint 150%ig zu stimmen. Jesus, der Prophet. Passt!
Aber Jesus fragt weiter und stellt nun die Frage, die nur Petrus beantworten kann und auch das nicht aus sich selbst heraus. Petrus antwortet auf Jesu Frage "Wer sagt ihr denn, dass ich sei?" mit: "Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!" Jesus bestätigt das indirekt, indem er sagt: "Glücklich bist du zu preisen, Simon, Sohn des Jona, denn nicht menschliche Klugheit hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel."
Wer Jesus ist, können Menschen also nicht ohne die Erkenntnishilfe Gottes erfassen. Selbst Johannes der Täufer, der Jesus im Jordan taufte, ist sich im Gefängnis sitzend unsicher und schickt seine Jünger zu Jesus, die ihn fragen sollen: "Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?" Woraufhin Jesus antwortet: "Geht zu Johannes und berichtet ihm, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt, Taube hören, Tote werden auferweckt, und den Armen wird Gottes gute Botschaft verkündet. Und glücklich zu preisen ist, wer nicht an mir Anstoß nimmt." (Mt 11,1-6)
Jesus bezieht sich dabei auf den Propheten Jesaja (vgl. Jes 29,17-24 und Jes 42,1-9). Hier wird der zukünftige Messias angekündigt. Wohl dem, der die heiligen Schriften kennt. Aber sie zu kennen reicht nicht, sie müssen auch entsprechend gelesen werden, um zu erkennen, wie Gott handelt.
Daher folgt auf diese kleine Episode der jesuanischen Variante von "Was bin ich?" gleich die erste Leidensankündigung. Der Evangelist macht hier sofort deutlich: der Messias Jesus entspricht nicht den Wunschvorstellungen der wohl meisten Juden zu jener Zeit, die sich nach einem starken Befreier von der römischen Besatzungsmacht sehnten. Jesus ist so ganz anders. Er passt nicht ins Schema. Er ist nicht nur ein Prophet, aber er ist auch kein militanter Radikaler. Er ist der, der zum Leiden bereit ist, damit die Schuld der Menschen weggenommen wird und der Zugang zu Gott frei wird.
Welche Enttäuschung! So viel Potential, so viel Weisheit bei der Schriftauslegung und so viel Zuspruch aus der Bevölkerung. Was hätte nicht alles aus Jesus werden können. Aber er stirbt einen schändlichen Tod am Kreuz und die Jünger laufen davon. Hätte die Sache hier geendet, dann gäbe es heute kein Christentum. Aber in allen Evangelien in Berufung auf hunderte Augenzeugen wird davon berichtet, dass Jesus nicht im Grab geblieben ist, obwohl er tot war. Er wurde vielmehr von Gott zu neuem Leben auferweckt und begegnete der verängstigten Schar seiner AnhängerInnen und ermutigte sie dazu, seine Geschichte in aller Welt zu erzählen. Die Botschaft von der Befreiung und vom Heil, das für alle möglich ist, die an ihn glauben.
Ja, um Jesus zu kennen, um die Frage zu beantworten, wer er ist, dazu müssen wir glauben, denn Klugheit allein verschafft uns diese Erkenntnis nicht. Sie reicht immer nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann sind wir eingeladen zu springen. Den Sprung in den Glauben zu tun, wo sich uns eine neue Wahrnehmung präsentiert. Diese erkennt nicht nur Jesus als den Messias Gottes, sondern verhilft auch zu einem veränderten Leben, in dem wir endlich zu denen werden, die wir eigentlich sind: Stück für Stück auf dem Weg der Heiligung, heil und ganz werden durch und in Jesus, so wie Gott uns sieht und behandelt.
Und was würde Gott wohl darauf antworten, wenn er über dich gefragt wird: "Wer sagst du ist sie/er?" Ich denke, er würde antworten: "Sie ist meine geliebte Tochter/Er ist mein geliebter Sohn!" Genau die richtige Botschaft für die Sommerzeit! Sommerzeit! Den Soundtrack dazu liefern die Casting Crowns (Who am I? Wer bin ich?)
Wohin du auch gehst, wem du auch begegnest, es ist eine Chance, darüber ins Gespräch zu kommen, wer wir sind. Gottes Segen begleite dich dabei in Form des Monatsspruchs für August:
Du bist mein Helfer, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich! Psalm 63,8
Eure Raphaela