Der Blick auf das eigene Leben

Auslegung für den 5.April 2020 von Hartmut Kraft

Der Menschensohn muss erhöht werden,


damit alle, die an ihn glauben

 

das ewige Leben haben

 


Johannes 3,14b+15

 

Corona mit Mehrwert?
Es ist der vierte Sonntag, an dem wir uns nicht als Gemeinden treffen können und wir Vorlieb nehmen müssen mit anderen Kommunikationsformen. Wir merken, dass wir uns sowohl im privaten als auch im beruflichen und erst recht im kirchlichen Bereich vortasten müssen in eine neue Welterfahrung. Wir lernen dabei Neues und entdecken manches Alte wieder.


Neu ist im kirchlichen Bereich der Versuch, online Treffen abzuhalten. In der Hamburger Gemeinde traf sich ein Hauskreis zum gemeinsamen Abendessen, Austausch und Gebet via Videokonferenz. Vielleicht winkt jetzt mancher ab, der aus dem beruflichen Leben solches schon lange kennt. Ja, das mag sein, aber zum kirchlichen Leben gehört die erlebte Gemeinschaft essentiell dazu. In diesem Bereich sind Zusammenkünfte online neu. Auch Vorstandssitzungen haben wir mittlerweile in beiden Gemeinden online gehalten. Sicher werden die Erfahrungen damit in die Zukunft wirken. Manche Absprachen können unter Einsparung langer Fahrwege auf diese Weise gut getroffen werden. Und im Falle des Hauskreises ergab sich durch das Onlinetreffen die Möglichkeit, mit einer erkrankten Person Kontakt zu haben, was sonst nicht möglich gewesen wäre. Insofern stellen die neuen Erfahrungen eine Erweiterung unserer Möglichkeiten dar.


Ob dies auch für gottesdienstliche Angebote gilt, werden wir erst noch ausprobieren. Manche von uns haben zwar bereits Gottesdienste anderer Gemeinden im Internet verfolgt, aber es selbst zu probieren ist noch einmal etwas anderes. Für Karfreitag und Ostern ist dies geplant. Bis jetzt ist es uns aber in Test-Übertragungen leider noch nicht gelungen, in brauchbarer Qualität aus der Eimsbütteler Erlöserkirche zu senden. Diese Andacht wurde allerdings schon vor dem Abschluss der Testläufe geschrieben. Informationen für die nächsten Gottesdienste werden folgen.
Ich weiß, dass für manche, die durch diese Krise besonders herausgefordert sind oder sich sogar in gesundheitlichen Schwierigkeiten befinden, die Frage nach dem Mehrwert von Corona befremdlich ist. Wohlgemerkt: Die Frage bedeutet ja auch nicht, diese Krise schön zu reden. Sie bleibt mühsam, für viele sehr anstrengend und für manche auch schrecklich. Aber der Blick nach vorn in die Zeit nach Corona wird seit der letzten Woche in den Medien erkennbar gewagt.


Zunächst geht es vielen um die Frage, wann die aktuellen Beschränkungen aufgehoben werden und das wirtschaftliche Leben wieder in Gang kommt. An der Diskussion will ich mich hier nicht beteiligen. Aber ein anderer Aspekt der Frage nach der Zukunft fällt auf und berührt den Bibeltext, der oben auf der Seite zu finden ist. Immer wieder kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass diese Krise uns neu den Fokus unseres Lebens erkennen lässt. Kann es ein, dass die Hilfsbereitschaft, der Einsatz für andere und die gegenseitige Rücksichtnahme, die wir gerade erleben, über den Tag hinaus wirken? Kann es sein, dass einer der Gründe für die pandemische Ausbreitung von Corona, nämlich die weltweite Vernetzung aus rein wirtschaftlichen Zielsetzungen, uns neu erkennen lässt, dass Wohlstandsmehrung und die permanente Verfügbarkeit aller Güter noch kein lebenswertes Leben erzeugen?


Viele Menschen entdecken bei aller momentanen Einschränkung verloren geglaubte Seiten des Lebens wieder. Entschleunigung und Muße ermöglichen es, sich Fragen zu stellen, die im normalen Alltag oftmals untergehen. Sicher ist es für manche erst einzuüben, Zeit für sich zu haben. Es wird auch so sein, dass es Anstrengung und Überwindung kostet, leise innere Stimmen und ihre Fragen an einen selbst zuzulassen. Aber lohnend ist es allemal.


Das eigene Leben anschauen
Der Vers oben auf der Seite ist der Wochenspruch für diesen Sonntag, der, wenn die Gottesdienste überall stattfinden würden, in sehr vielen Gemeinden gelesen werden würde. Jesus sagt diesen Satz über sich. Er befindet sich in einem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus, einem einflussreichen Pharisäer. Nikodemus sucht die Nähe Jesu, weil ihn die Botschaft Jesu bewegt und er Antworten haben will. Ohne lange Einleitung erklärt Jesus diesem in den alttestamentlichen Schriften versierten Mann, was Gott für ihn bereit hält bzw. wie er Frieden mit Gott finden kann.

Der Satz Jesu weist in paradoxer Weise auf die Ereignisse von Karfreitag und Ostern hin. Jesus muss erhöht werden, indem er gekreuzigt wird. Und zugleich ist es eine Erhöhung, weil er Leben erwirkt. Wie kommt Jesus zu dieser eigenartigen Formulierung?


Jesus nimmt Bezug auf einen Vorgang, der in 4. Mose 21,4ff berichtet ist und den Nikodemus natürlich kannte. Dort lehnt sich das von Ägypten nach Kanaan wandernde Volk Israel gegen Gott auf. Es misstraut den Zusagen und der Fürsorge Gottes und greift Mose, den Führer während der langen Wanderung, heftig an. Gott schickt giftige Schlangen, eine tödliche Gefahr. Als Mose für das Volk zu Gott betet, weist der ihn an, eine eiserne Schlange an einem Stab aufzurichten. Jeder der diese Schlange ansah, sollte am Leben bleiben, was auch geschah.


Diese aus neutestamentlicher und heutiger Sicht sicherlich eigenartige Geschichte hat ihre Bedeutung darin, dass die Schlange zum Symbol für die Schuld der Menschen wird. Wer die „erhöhte  chlange“ anschaut, also die eigene Verfehlung sieht und sich ihr stellt, wird leben. Diese Geschichte macht deutlich, dass einfaches Verdrängen von Verfehlungen kein gutes Rezept für ein  elingendes Leben ist. Was im eigenen Leben schief lief, muss bewältigt werden. Schuld und Verfehlungen sind Realitäten. Zum Neuanfang gehört in jedem Fall, sich diesen Realitäten des eigenen Lebens zu stellen.


In diesem Sinn wird in der Bibel Jesu Tod am Kreuz immer wieder gedeutet und erklärt. Jesus starb am Kreuz nicht den heroischen Tod eines geistlichen Superhelden. Er starb verlassen, einsam, mit Angst erfüllt. So jedenfalls wird es in der Bibel beschrieben. Er starb am Kreuz, weil an diesem Tag vermeintlich menschliche Ausgrenzung, Hass und Selbstsucht über die Einladung zu einem Leben mit Gott triumphierten. Erst im österlichen Rückblick wird deutlich, dass das scheinbar bittere Ende um der Liebe Gottes willen neues Leben bedeutet.


Aber das neue Leben kommt nicht leichtfüßig daher, weil „der liebe Gott“ es uns einfach schenken würde. Ja, Gott schenkt neues Leben. Zu verdienen gibt es genau gar nichts. Aber wie bei der erhöhten Schlange aus dem 4. Buch Mose heißt es auch bei Jesus, auf „den erhöhten Menschensohn“ zu schauen. Wer Ja sagt zu Jesus Christus, erkennt in ihm am Kreuz die eigene Distanz zu Gott. So wie im Anschauen der Schlange die Rettung darin bestand, der eigenen Verfehlung ins Auge zu schauen und auf Gnade zu hoffen, erkennen wir im Blick auf das Kreuz unser eigenes Leben
und strecken uns nach der Gnade Gottes aus.


Hoffen auf die Gnade
Das klingt vielleicht reichlich theologisch, etwas steif und abgehoben. Wer aber sein Leben im Geschick Jesu erkennt, wird darüber nicht auf einer theoretischen Ebene diskutieren. Die Erkenntnis, dass Jesus am Kreuz hängt, weil auch mein eigenes Leben ohne Gott sein Ziel genauso verfehlt, wie es bei den Menschen damals rund um das Kreuz gewesen ist, erfüllt das Herz mit Schmerz. Darum ist die sogenannte Karwoche mit dem Karfreitag als Höhepunkt nur für sich genommen eine erbarmungslose Zeit. „Kara“ bedeutet althochdeutsch Klage, Trauer. Mit aller Intensität
und Härte wird vor Augen gestellt, wohin Menschen ohne Gott kommen. In diesen Irrweg sind sogar Menschen mit hineingenommen, die überzeugt sind, im Sinne Gottes zu handeln. Auch sie sind beteiligt an der Hinrichtung Jesu.


Und doch ist der Karfreitag ein „Good Friday“, ein „guter Freitag“, wie er im angelsächsischen Sprachraum genannt wird. Wüssten wir nicht von Ostern, von der Auferweckung Jesu, könnten wir gar nicht seinen Weg ans Kreuz bedenken. Im Licht der Zusage Jesu aus unserem Bibeltext „...damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“, weicht das Erschrecken über ein Leben ohne Gott der Freude, von ihm gesehen und angenommen zu sein.


Gewissheit darf wachsen. Wir hoffen auf die Gnade Gottes und doch wächst eine tiefe Gewissheit im eigenen Herzen. Der Gnade zu vertrauen lässt mich nicht im Ungewissen, im Zweifel zurück. „Damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“, sagt Jesus, nicht „möglicherweise“ oder „vielleicht“ haben. Diese Gewissheit ist der entscheidende Halt für die Zukunft.


Die Gewissheit des Glaubens ist keine billige Vertröstung für die Ewigkeit. Gerade weil das Kreuz ein sehr realer Vorgang und in handfester, tödlicher Weise das Ergebnis menschlicher Gottesferne war, wirkt es sich auch in der praktischen Lebensführung aus. Dieser Liebe Gottes zu vertrauen, die sich am Kreuz zeigt und diese Liebe selbst weiter zu geben, sind zwei Seiten der selben Medaille.


Ob die Welt nach Corona wegen der damit verbundenen eindrücklichen Erfahrungen eine bessere wird? Ich weiß es nicht. Zu wünschen wäre es. Allein ein Blick in die Geschichte lässt uns aber ernüchtert erkennen, dass die positiven Lehren aus einschneidenden Erfahrungen mitunter eine sehr kurze Halbwertzeit hatten. Trotzdem wollen wir hoffen, dass wir nicht zu schnell zur gewohnten Tagesordnung zurückkehren, sondern auch nachhaltiges Umdenken und neues Verhalten erleben werden.


Als solche, die an Jesus Christus glauben, steht es uns gut an, positive Einsichten, die in der Corona-Krise erwachsen sind, zusammen mit allen anderen Menschen in die Tat umzusetzen. Aber wir haben auch eine Erfahrung und ein Angebot weiter zu geben. Es ist die Erfahrung, dass der Blick auf den erhöhten Menschensohn neues Leben bedeutet. Und es ist das Angebot, das allen gilt. Lasst uns das mutig glauben und leben. Lasst uns darauf vertrauen, dass Jesus die ganze durch Corona, aber außer dem noch durch viele andere Krisen und Konflikte gebeutelte Welt im Blick hat. „Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben das ewige Leben haben.“


Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden,


Hartmut Kraft