Keiner kann sie aus meiner Hand reißen
Auslegung für den 26. April 2020 von Hartmut Kraft
Es war Winter. In Jerusalem feierte man das Fest der Tempelweihe (Chanukka). Jesus hielt sich gerade im Tempel auf und ging in der Halle Salomos umher, als die Juden ihn umringten und fragten: „Wie lange lässt du uns noch im Ungewissen? Wenn du der Christus bist, der von Gott gesandte Retter, dann sag uns das ganz offen!“
„Ich habe es euch schon gesagt, aber ihr wollt mir ja nicht glauben“, antwortete Jesus. „All das, was ich im Auftrag meines Vaters tue, beweist, wer ich bin. Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meiner Herde. Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ihnen gebe ich das ewige Leben, und sie werden niemals umkommen. Keiner kann sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater hat sie mir gegeben, und niemand ist stärker als er. Deshalb kann sie auch keiner der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins.“
Johannes 10,22-30
Eine besonderer Text in einer besonderen Zeit
Ich sitze am Schreibtisch vor meinem Laptop und schreibe diesen Text, eine Auslegung zu Johannes 10,22-30. Einerseits
stellt man sich bei jeglicher Auslegung zunächst die Frage nach dem ursprünglichen Zusammenhang des Bibeltextes
und seiner zunächst beabsichtigten Bedeutung. Es ist die Frage nach der Aussage, ohne dass gleich die
heutige Situation mit dem Text in Zusammenhang gebracht wird. Und es ist wichtig, diesen Schritt nicht zu übergehen,
um nicht vorschnell aus einer aktuellen Betroffenheit heraus etwas in den Bibeltext hineinzulegen, was so gar
nicht darin steht. Alle Ausleger von biblischen Texten müssen sich immer die Kontrollfrage stellen, ob sie wirklich
den Text auslegen oder ob sie ihn als Vehikel für ihre eigenen Lieblingsgedanken oder Absichten benutzen. Zugegebenermaßen
ist dies nicht immer leicht. Wie wir sehen werden, enthält der vorliegende Bibeltext sowohl sehr
grundlegende Aussagen für unseren Glauben als auch Herausforderungen für die konkrete geschichtliche und gesellschaftliche
Situation.
Seit wenigen Wochen leben wir in einer Welt, die wir uns vorher kaum haben vorstellen können. Nicht nur lokal,
nicht nur in Deutschland oder Europa, nein, auf der ganzen Welt haben sich die Verhältnisse dramatisch verändert.
Wir alle versuchen, uns mit den mit der Pandemie einhergehenden Auflagen und Herausforderungen für unser Verhalten
zu arrangieren. Alle Lebensbereiche sind betroffen. Abgesehen von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
gesundheitlichen Folgen können wir auch zunehmend psychologische Effekte beobachten. Manche kommen mit einem
„Wir-bleiben-zuhause“-Lebensentwurf ganz gut klar, andere tun sich zunehmend schwerer. Und es wird spürbar,
wie wichtig für Menschen ein Erklärungsrahmen für ihr Leben ist. Neueste Untersuchungen zeigen, dass wenige
Wochen der sozialen Distanz und der Unsicherheit, wie es weiter gehen wird, Ängste und Depressionen messbar ansteigen
lassen. Damit einher gehen die mittlerweile eigenartigsten Erklärungsversuche, warum es diese Pandemie
geben würde. Verschwörungstheoretiker haben im Internet Hochkonjunktur.
Ich könnte nun weiter schreiben über die Zusammenhänge und auch Auswüchse der aktuellen Lage. Aber ich will
den Blick zurück werfen auf die Zeit vor rund 2000 Jahren. Damals gab es zwar keine Pandemie und schon gar keine
weltweit vernetzte Wirtschaft, aber trotzdem lassen sich in Bezug auf das Lebensgefühl der Menschen Parallelen zu
unserer Zeit ziehen. Heute fragen wir uns, wohin uns die Veränderungen führen. Sicher Geglaubtes ist fragwürdig
geworden. Unsicherheit macht sich breit. Bei manchen entsteht ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Was oder wer kann
helfen oder Halt geben?
Auf ganz ähnliche Gefühlslagen traf Jesus bei seinen Zeitgenossen. Unsere Situation kann helfen, Verständnis für
die Lage in der damaligen römischen Provinz Judäa zu haben. Es war eine Zeit,, in der es gesellschaftlich brodelte.
Die Menschen fanden sich damals vor in einer Gemengelage aus religiösen Traditionen und Sehnsüchten, politisch
schwierigen Verhältnissen und der täglichen Existenzsicherung. Die Römer hatten das Land erobert und unterworfen.
Das eigene Königshaus rund um Herodes gab es zwar noch, aber die Römer hatten das Sagen. Die Deutungshoheit
innerhalb des Volkes besaßen aber die Priester, Schriftgelehrten und Pharisäer.
Viele Menschen zogen sich ins Privatleben zurück, manche arrangierten sich mit den Machthabern, wie zB der Zolleinnehmer
Zachäus. Andere neigten dazu, den bewaffneten Widerstand der Zeloten gegen die Römer aufzunehmen
und in den Untergrund zu gehen, wie Simon, der Jünger Jesu. Und auch Jesus als Wanderprediger war keine einzelne
Erscheinung. Es gab eine ganze Reihe solcher selbsternannter Rabbi, die auch in der Regel Jünger um sich scharten.
„Bist du es?“
„Wie lange lässt du uns noch im Ungewissen? Wenn du der Christus bist, der von Gott gesandte Retter, dann sag uns
das ganz offen!“ Mit dieser Frage wenden sich die Menschen, auf die Jesus trifft, an ihn. Traditionell wird diese Frage
immer als Herausforderung an Jesus gelesen, sich zu bekennen, um ihn dann wegen Gotteslästerung verklagen
zu können. Das ist sicher auch die Hauptabsicht der Frage. Aber sie ist nur möglich, weil die gesamte damalige Gesellschaft
von der gespannten Erwartung durchdrungen war, dass Gott in irgendeiner Weise auf die verworrene Situation
reagieren würde. Zuallererst verknüpfte sich diese Erwartung für die gläubigen Juden natürlich mit der Frage,
wann Gott endlich seinen verheißenen Messias senden würde. Vielen dachten: „Wenn nicht jetzt, wo doch alles
immer schlimmer wird, wann will Gott denn dann seinen Retter schicken?“
Alles wird immer schlimmer! Diesen Satz habe ich in diesen Tagen manchmal gehört. Die Neigung, für alle möglichen
Antworten empfänglich zu sein, steigt. Die Erfahrung, in einer immer unübersichtlicheren Welt zu leben, in der zudem
die Antworten eher wie trockener Sand zwischen den Händen zerrinnen als dass sie zu gewissen Antworten
werden, führt dazu, manches Erklärungsangebot wie einen trockenen Strohhalm ergreifen zu wollen. Diese manchmal
hektische Suchbewegung ist ein Merkmal von Krisenzeiten. Außerdem vermittelt einem jede ernsthafte Krise
das ungute Gefühl, dass es jetzt besonders schlimm sei. Manche Menschen sind für solche Fragestellungen besonders
empfänglich und geraten dabei in einen Abwärtsstrudel der Befürchtungen und Mutmaßungen.
Dabei ist unsere Krise nicht schlimmer als andere in der Menschheitsgeschichte. Wie stark eine Situation als krisenhaft
erlebt wird, richtet sich immer auch nach der eigenen Einschätzung, mit ihr umgehen zu können oder ihr eher
ausgeliefert zu sein. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein und kaum mehr verlässliche Grundlagen zu haben, ist ein denkbar
schlechter Ratgeber. Es ist nicht gut, sich davon treiben zu lassen. Jesus setzt in seiner Antwort an die Fragesteller
um ihn herum interessanterweise genau dort an: „... ihr wollt mir ja nicht glauben.“
Diese Reaktion Jesu erinnert an viele Heilungsgeschichten. Die Heilung beginnt oft genug nicht mit einer Handlung
Jesu, die der Krankheit Einhalt gebietet, sondern mit der Frage, was die jeweilige kranke Person denn wolle. Dort
wie hier gehört zur Glaubenserfahrung der Wille zum Glauben. Genau wie ich es vor einer Woche zu Jesaja 40 geschrieben
habe, gilt auch hier, dass der Wille zum Glauben nicht die letzte Forderung Gottes im Sinne einer Leistung
an uns ist. Aber der Wille zum Glauben und die Bereitschaft, die Heilung geschehen zu lassen, haben etwas sehr
Wichtiges gemein: Wer „Ja“ sagt zum Handeln Gottes, ist nicht länger Objekt des Handelns Gottes, sondern wird zu
einer Persönlichkeit, die aktiv annimmt, was Gott gerne geben möchte. Die angemessene Art, auf das Angebot Gottes
zu reagieren, ist nicht, es einfach geschehen lassen, sondern es bewusst anzunehmen.
„Keiner kann sie aus meiner Hand reißen.“
Dann kann und darf ich glauben, dass Gottes Zusage für mich gilt. Dann eröffnet sich mir die Erfahrung, dass Jesus
der Hirte meines Lebens ist, dessen Stimme ich kenne und der meine Stimme kennt. Er schenkt Leben, wahres Leben,
ja sogar ewiges Leben. Bei und mit Jesus erlebe ich Geborgenheit in allen Wechselfällen des irdischen Lebens.
„Keiner kann sie aus meiner Hand reißen“, sagt Jesus.
Es ist ein großes Wort. Vielleicht schwanken wir zwischen einem tiefen Seufzer der dankbaren Zustimmung und dem
leisen Zweifel, ob das wirklich so stimmt. Gibt es wirklich nichts, das mich wieder von Jesus loskommen lässt? Gibt es
nicht die Erfahrung von Menschen, die dabei waren und nun in kaum erkennbarer Nähe zu Jesus leben?
Wer will Urteile sprechen? Ich nicht. Es wird auf jeden Fall deutlich, dass sich die Gnade Gottes nicht daran bemisst,
was ich noch für akzeptabel halte. Das Versprechen Jesu ist bedingungslos. Daran darf ich mich willentlich festhalten
und binden. Diesen Halt darf ich erfahren, wenn der Wille und Belastbarkeit an ihre Grenzen stoßen. Paulus hat
es mit seinen Worten so formuliert (Römer 8): „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch
Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
Zurück zu unseren Coronazeiten und der Endzeitstimmung in der jüdischen Bevölkerung zu Jesu Zeiten. Mit der dringenden
Einladung Jesu, ihm und der Gnade Gottes zu vertrauen, reagiert Jesus auf die Orientierungslosigkeit der
Menschen. Ja, es gibt in solchen Zeiten viele Erklärungsversuche und Angebote der Weltsicht. Umso wichtiger ist es,
einen festen Halt in Gott zu haben. Die Versuchung, sich dem Strudel der Meinungsmacher hinzugeben und sich darin
zu verlieren, ist unbestritten. Aber wer dazu bereit ist, muss sich nicht selbst irgendwo festhalten, sondern kann
erleben, von Jesus nicht mehr losgelassen zu werden - zum eigen Heil.
Ich wünsche allen diese Gewissheit. Die Gemeinschaft mit Gott bewirkt, nicht in all dem Zeitgeschehen auf- und unterzugehen.
Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden,
Hartmut Kraft