Herzlichen Gruß an alle, die mitlesen!

Wir leben in einer Zeit mit vielen Herausforderungen.
Vor zwei Jahren wurde das Coronavirus erstmals in Deutschland nachgewiesen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in der Folge erkennbar gestört. Der Ton wird schärfer. Die Grenze zur Herabwürdigung anders Denkender wird immer häufiger überschritten. Daneben gibt es jede Menge andere Baustellen und Gefahren, die uns nachhaltig beschäftigen. Die Klimakrise ist für alle spürbar und wir tun uns oft noch sehr schwer zu akzeptieren, dass nicht nur ein Umdenken, sondern auch ein neues Handeln von uns allen verlangt wird. Zudem haben wir uns in Europa wieder mit einer realen Kriegsgefahr auseinanderzusetzen. Eine Gemengelage aus Machtpolitik, Nationalstolz, politischen Einflusssphären und auch versteckten Tagesordnungen erzeugt gerade viel Angst und Unsicherheit.
 

Die anderen und ich
All diese Bereiche sind sehr unterschiedlich. Und doch gibt es Zusammenhänge, die sich wie ein roter Faden durchziehen. Ob es die Folgen der Pandemie oder die persönlichen Herausforderungen der Klimakrise sind oder ob man die politische Krise in Osteuropa anschaut, immer geht es auch um die Verteidigung tatsächlicher oder vermeintlicher Besitzstände. Krisen sind Zeiten der Herausforderung und von Entscheidungen.
Das griechische Wort „krisis“ bedeutet unter anderem „Unterscheidung“. Wir sind es meistens gewohnt, eine Krise als etwas Negatives wahrzunehmen. Aber sie bietet auch Chancen.
Wenn ich mich einer Krise stelle, lerne ich zu unterscheiden. Ich lerne in all den Veränderungen zu unterscheiden, was trägt und Bestand hat und was auch endlich zur Seite gelegt werden kann, um Neues wagen zu können. Eine wesentliche Frage in Herausforderungen ist und bleibt immer wieder die Bestimmung des Verhältnisses zwischen einem selbst und anderen. Geht es darum, Besitzstände zu verteidigen (siehe oben), was sich ja fast immer gegen andere Menschen richtet? Lebe ich in meinem Selbstverständnis von dem Unterschied, dem Abstand, den ich zwischen mir und anderen ausmachen kann?

Oder gibt es eine andere Möglichkeit?


Eine Beispielgeschichte Jesu
Jesus erzählte nach Matthäus 20,1-16 ein Gleichnis.
In der Übersetzung der Basisbibel lautet der Text:
Jesus fuhr fort: „Das Himmelreich gleicht einem
Grundbesitzer. Der zog früh am Morgen los, um
Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Er
einigte sich mit den Arbeitern auf einen Lohn von
einem Silberstück für den Tag. Dann schickte er sie
in seinen Weinberg. Um die dritte Stunde ging er
wieder los. Da sah er noch andere Männer, die ohne
Arbeit waren und auf dem Marktplatz
herumstanden. Er sagte zu ihnen: ‚Auch ihr könnt in
meinen Weinberg gehen. Ich werde euch
angemessen dafür bezahlen.‘ Die Männer gingen
hin. Ebenso machte der Mann es um die sechste
Stunde und dann wieder um die neunte Stunde. Um
die elfte Stunde ging er noch einmal los. Wieder traf
er einige Männer, die dort herumstanden. Er fragte
sie: ‚Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig
herum?‘ Sie antworteten: ‚Weil uns niemand
eingestellt hat!‘ Da sagte er zu ihnen: ‚Auch ihr
könnt in meinen Weinberg gehen!‘ Am Abend sagte
der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter:
‚Ruf die Arbeiter zusammen und zahl ihnen den
Lohn aus! Fang bei den letzten an und hör bei den
ersten auf.‘ Also kamen zuerst die Arbeiter, die um
die elfte Stunde angefangen hatten. Sie erhielten
ein Silberstück. Zuletzt kamen die an die Reihe, die
als Erste angefangen hatten. Sie dachten: ‚Bestimmt
werden wir mehr bekommen!‘ Doch auch
sie erhielten jeder ein Silberstück. Als sie ihren
Lohn bekommen hatten, schimpften sie über den
Grundbesitzer. Sie beschwerten sich: ‚Die als
Letzte gekommen sind, haben nur eine Stunde
gearbeitet. Aber du hast sie genauso behandelt wie
uns. Dabei haben wir den ganzen Tag in der Hitze
geschuftet!‘ Da sagte der Grundbesitzer zu einem
von ihnen: ‚Guter Mann, ich tue dir kein Unrecht.
Hast du dich nicht mit mir auf ein Silberstück
geeinigt? Nimm also das, was dir zusteht, und geh!
Ich will dem Letzten hier genauso viel geben wie
dir. Kann ich mit meinem Besitz nicht machen, was
ich will? Oder bist du neidisch, weil ich so
großzügig bin?‘ So werden die Letzten die Ersten
sein und die Ersten die Letzten.“


Kannst du anderen Gnade gönnen?
Der Protest derer, die seit dem Morgen gearbeitet
haben, ist verständlich. Im Denken, das unsere
Kultur und offensichtlich auch die der Menschen in
der antiken Welt prägt, ist das Verhalten des
Arbeitgebers, ein Affront. Und doch hat er ja
Recht, wenn er darauf hinweist, dass niemand
übers Ohr gehauen worden ist. Alle waren
einverstanden mit der Lohnvereinbarung.
Aber wir leben von und mit den Unterschieden zwischen
uns, tragen den Konkurrenzgedanken tief in
uns. Trotzdem mutet Jesus seinen Zuhörern die
Frage zu, ob sie es jenseits allen Leistungsdenkens
nicht anderen gönnen können, dass diese ihren
Lebensunterhalt bestreiten können.
Interessanterweise trifft dieser Gedanke einen
wunden Punkt der gerade in unserer Gesellschaft
stattfindenden Diskussion über ein
Grundeinkommen für alle, auch wenn Jesus hier
sicher nicht die Grundzüge einer neuen
Wirtschaftsordnung beschreiben wollte. Kann ich,
kannst du anderen gönnen, was sie benötigen,
ohne gleich aufzurechnen?

Gott will dir das Leben geben
Und das weist auf eine tiefer gehende Frage hin.
Wovon lebe ich wirklich? Sicher kann ich dankbar
sein für vieles, was in meinem Leben geschehen
ist und was ich erreicht und erlebt habe. Aber was
trägt, was gibt mir Halt und Frieden?
Aus den Unterschieden zu anderen oder Urteilen
der Umwelt den Wert des eigenen Lebens
abzuleiten heißt letztlich, nicht selbst zu leben,
sondern gelebt zu werden. Jesus möchte eine
andere Perspektive auf das eigene Leben eröffnen.
In der Geschichte gibt der Arbeitgeber allen, was
sie wirklich zum Leben brauchen. Was nur dazu
dient, sich gesellschaftlich einzuordnen, ist vor
diesem Hintergrund uninteressant.
Gott will dir und mir genau dies deutlich machen:
Ich will für dich da sein. Du lebst, weil ich dir
geben will, was du brauchst. Das ist Leben mit der
tiefen Gewissheit, von Gott gesehen zu werden. So
beginnt Frieden mit sich selbst und auch mit
anderen. Ich lebe von der Güte Gottes und kann
sie darum auch anderen von herzen gönnen.

Das zu erleben wünscht Euch/Ihnen
Hartmut Kraft