Das Leben umbeten

Auslegung für den 17.Mai 2020 von Irene Kraft

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können  in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist  ein" Gott und "ein" Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.
1. Timotheus 2, 1-6a

Der heutige Sonntag „Rogate“ („Betet“) lädt ein zum Gebet und dazu, sich über das Gebet Gedanken zu machen. Früher haben die Menschen an diesem Sonntag und in der darauf folgenden Woche  sogenannte „Bittumgänge“ um ihre Felder gemacht. Wir würden heute vielleicht sagen: Sie haben „Gebetsspaziergänge“ unternommen. Sie sind an ihren Feldern entlang gegangen und haben darum  gebetet, dass Gott günstige Wetterbedingungen schenkt und dass die ausgebrachte Saat gut wächst.

Vor allem und in allen Situationen beten

 Viele Menschen beten erst oder nur dann, wenn sie das Gefühl haben, alle anderen Mittel ausgeschöpft zu haben. „Da hilft nur noch beten“, stöhnen sie dann oder schicken verzweifelte Stoßgebete zum Himmel. Beten ist mehr als das Flehen um Hilfe. Der Predigttext zählt vier Aspekte des Gebets auf: Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung.

1. Ja, natürlich, die Bitte um Hilfe oder um Wegweisung ist eine wichtige Dimension des Gebets. Mehrfach redet Jesus in den Evangelien davon, dass wir uns mit unseren Bitten und Bedürfnissen vertrauensvoll an Gott wenden dürfen und unsere Gebete bei ihm Gehör finden. Allerdings funktioniert Gott nicht wie ein Automat: Münze rein, Getränk raus – Bitte rein, Ergebnis raus. Oft ist Geduld nötig bis die Antwort kommt und manchmal kommt sie auch anders als erwartet oder erhofft. Aber dass Gott unsere Gebete und gerade auch unsere Bitten hört, darauf können wir uns verlassen!

2. Beten bedeutet aber auch einfach: Mit Gott in Verbindung treten und zu ihm Kontakt aufnehmen. Das steht hinter dem zweiten Begriff in der Aufzählung, der mit dem allgemeinen Wort Gebet übersetzt ist. Ich muss gar nicht immer große Worte machen, große Anliegen haben, einen besonderen Grund haben – das Gebet dient schlicht auch meiner Beziehungspflege zu Gott. Und dazu gehört es, nicht nur immer selber zu reden, sondern auch mal innerlich zu hören: Was hat Gott mir zu sagen? Worauf möchte er mich hinweisen? Was ist jetzt für mich dran?

3. Beten bedeutet, nicht nur mich und meine Bedürfnisse, sondern meine ganze Lebenswelt vor Gott zu bringen: In der Fürbitte kann ich mit Gott über meine Beziehungen sprechen, über die Menschen, die mir am Herzen liegen und auch über die, mit denen ich Probleme habe. Ich kann bitten für Situationen und Menschen in meinem Umfeld, aber auch in der weiten Welt.

 4. Und schließlich: Zum Beten gehört auch das Danken. In Lukas 17, 11-19 wird erzählt, wie Jesus einmal zehn leprakranke Menschen geheilt hat. Alle 10 freuten sich unbändig über ihre Heilung – aber nur einer kam zurück und dankte Jesus für das, was geschehen war. Wie ist das bei uns? Fügen wir unserer Bitt- und Fürbittliste immer eifrig weitere Anliegen hinzu oder nehmen wir uns zwischendurch auch Zeit, zurück zu schauen und einfach mal „Danke“ zu sagen für das, was Gott schenkt und tut? Unter welchen äußerlichen Bedingungen und zu welchen Zeiten die Begegnung mit Gott im Gebet stattfindet, das kann individuell sehr unterschiedlich sein. Für manche ist es wichtig, den Tag mit einer Zeit des Gebets zu beginnen; für andere ist der Abend der richtige Zeitpunkt, an dem sie auf den vergangenen Tag zurückblicken und den neuen schon in den Blick nehmen. Wieder andere haben mehrere Zeiten am Tag, wo sie Gott bewusst begegnen. Manche können Gott am besten begegnen, wenn sie draußen in der Natur sind; andere haben einen festen Platz zu Hause; manche nehmen zum Beten eine bestimmte Haltung ein oder haben sich kleine Rituale angewöhnt, z.B eine Kerze dazu zu entzünden. Für andere sind Autofahrten der Ort und die Zeit, die sie für die Begegnung mit Gott nutzen. - Für die Gestaltung des Gebetslebens gibt es kein richtig oder falsch. Nimm dir Zeit und suche dir Orte für deine Begegnung mit Gott. Die Begegnung und das Gespräch miteinander bilden den Lebensnerv jeder Beziehung – auch deiner Beziehung zu Gott!

 

Für alle Menschen beten

Beten ist Horizonterweiterung! Die Begegnung mit Gott im Gebet nimmt mich hinein in Gottes Sicht für diese Welt. Ich darf mich darüber freuen und darüber staunen, dass er sich für mich persönlich interessiert und für mich da ist, obwohl ich nur eine oder einer unter Milliarden von Menschen bin. Aber das Gebet öffnet mir auch den Blick dafür, wie Gott die Welt gemeint hat und was er sich wünscht: Dass Menschen in Frieden und Liebe zusammenleben; dass sie Verantwortung füreinander und für die Erde übernehmen und sich gegenseitig Lebensmöglichkeiten gönnen; „dass allen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ sagt der Text. Es geht dabei nicht darum, anderen die eigene Wahrheit aufzuzwingen, wie Menschen unterschiedlicher Religionen – auch Christen – das im Lauf der Geschichte leider oft versucht haben und noch versuchen. Nein, der 1. Timotheusbrief  fordert seine Leser und Leserinnen heraus, für die Menschen in ihrem Umfeld zu beten – gerade auch für die, die eine andere Überzeugung haben als sie. Zur damaligen Zeit waren die Christen noch eine kleine Minderheit, die im römischen Reich verfolgt wurde. Und trotzdem werden sie aufgefordert, für alle Menschen, besonders für die Regierung zu beten und darum, dass sie als Christen ihren Glauben leben können und dürfen.

Was würde sich wohl verändern, wenn wir weniger über unfähige Politiker, skrupellose Geschäftemacher, oder verblendete Extremisten schimpfen und dafür mehr für sie beten würden? Es lässt sich oft nur schwer messen, was sich konkret im Leben oder in der Einstellung der Menschen ändert, für die wir beten. Aber solche Gebete ändern auch einiges in uns selbst. Sie könnten uns sensibel machen für unsere eigenen Anteile an ungerechten Strukturen oder egoistischen Verhaltensweisen und uns erkennen lassen, wo wir selbst darin Hilfe und mehr Erkenntnis der Wahrheit brauchen.

Gottes Liebe und Leidenschaft gilt allen Menschen. Er hat das in Jesus Christus deutlich gemacht, der sich gegeben hat für alle zur Erlösung. Im Gebet können wir uns für diese Leidenschaft und Liebe Gottes öffnen und uns von ihr in Bewegung setzen lassen: damit andere durch uns von Gottes Liebe erfahren, die ihnen gilt; damit Menschen neue Lebensräume und Entfaltungsmöglichkeiten entdecken können; damit mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit, mehr Verantwortung für unsere Umwelt wachsen kann.

 

Das Leben umbeten

Früher gingen die Menschen am Sonntag Rogate in Bittumgängen um ihre Felder herum und beteten für Wachstum und gute Wetterbedingungen für die ausgebrachte Saat. Ihre Felder waren ihr Leben. Ohne gute Ernte drohte im nächsten Winter Not und Hunger. Sie haben also sozusagen ihr Leben umbetet. Sie hatten trotz der Gebete keine Garantie dafür, dass die Ernte gut ausfallen würde. Sie wurden auch nicht davon befreit, sich weiter um ihre Felder zu kümmern und die damit verbundene Arbeit zu erledigen. Aber sie haben sich, ihre Arbeit und ihre Umwelt Gott anvertraut und damit gerechnet, dass er mit ihnen sein werde. Das gilt auch für uns: Beten befreit uns nicht davor, unser Leben zu gestalten, zu bestehen, manchmal zu durchleiden und zu durchkämpfen. Aber das Gebet stellt unser ganzes Leben in den Horizont der Gegenwart Gottes: Ich weiß, dass er mit mir ist. Ich schöpfe Kraft und Orientierung aus der Begegnung mit ihm. Ich lasse mir die Augen öffnen für Menschen und Zusammenhänge, für die ich mich einsetzen kann. Ich vertraue darauf, dass Gott für mich sorgt. Ich bin dankbar für alles, was in meinem Leben wachsen und gedeihen darf. Nutze doch einmal den heutigen Tag und die kommende Woche für ein paar bewusste Gebetsumgänge um die Felder, die dein Leben ausmachen:

✗ Danke Gott für alles Gute in deinem Leben.

✗ Befiehl ihm die Probleme an, die dir Kopfzerbrechen bereiten.

✗ Bitte um seinen Rat, wo du nicht weiter weißt.

✗ Vertraue ihm Situationen und Menschen an, um die du dich sorgst, über die du dich ärgerst oder für die du eine Veränderung ersehnst.

✗ Sei auch einfach einmal still und lade Gott ein, zu dir zu reden. Und dann sei gespannt, was daraus wächst und wo Gott dir neue Blicke und Wege öffnet.  

 

 

Fünf Gebetsformen zum Ausprobieren:

 

1. Das Fünf-Finger-Gebet (beim Händewaschen oder am Abend vor dem Einschlafen; stammt aus dem angelsächsischen Raum, von Papst Franziskus verbreitet): Nutze doch einmal den heutigen Tag und die kommende Woche für ein paar bewusste Gebetsumgänge um die Felder, die dein Leben ausmachen:

 

Mit dem Daumen beten wir für die Menschen, die uns am nächsten stehen.

Der Zeigefinger lädt uns ein für die zu beten, die uns und anderen den Weg weisen und Orientierung geben (z.B. ErzieherInnen, Ärzte/Ärztinnen, PastorInnen)

Der Mittelfinger ist der längste Finger. Mit ihm beten wir für Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft.

Der Ringfinger ist der schwächste Finger. Mit ihm beten wir für Menschen, die in Not sind und Hilfe brauchen.

Der kleine Finger erinnert daran, wie klein ich selbst vor Gott bin und dass er mich trotzdem liebt und sieht. Mit ihm beten wir für unsere persönlichen Anliegen.

 

2. Gebetstagebuch: Schreib Gebete, Anliegen, Fürbitten, Dank regelmäßig oder hin und wieder auf. - Entdecke im Rückblick, was sich veränderte und wie Gott Gebete erhört hat.

 

3. Gebetsspaziergang: Auf einem Spaziergang mit Gott reden wie mit einem guten Freund. Entweder Stationen ablaufen und an bestimmten Orten für bestimmte Menschen und Situationen beten. Oder einfach unterwegs in der Natur alles mit Gott besprechen, was dir in den Sinn kommt und seine Gegenwart wahrnehmen.

 

4. Herzensgebet (oder Jesusgebet; Tradition aus der Ostkirche): Bewusst atmen und /oder gehen, bis ich meinen Rhythmus gefunden habe. Dann beim Einatmen leise sprechen: „Herr Jesus Christus, du Sohn des lebendigen Gottes...“ und beim Ausatmen „..erbarme dich meiner“. Mindestens 10 bis 15 Minuten so beten. Mit der Zeit (und mit etwas Übung) verbinden sich die Worte mit dem Herzschlag und dem Atem: es betet in mir und mein Inneres wird durch die Worte des Gebets geprägt. Das Bewusstsein der Gegenwart Gottes, die Liebe zu Jesus und die Barmherzigkeit zu den Menschen wachsen.

 

5. Bohnengebet (aus Afrika): Morgens einige Bohnen (oder andere kleine Gegenstände) in die rechte Hosen- oder Jackentasche stecken. Für jeden schönen und ermutigenden Moment im Lauf des Tages eine Bohne aus der rechten in die linke Tasche gleiten lassen. Am Abend die Bohnen aus der linken Tasche holen und in einem Dankgebet Revue passieren lassen, was ich heute an Schönem und Gutem erlebt habe.

 

Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden

Irene Kraft

 

Buchempfehlungen:

krea.tief beten – Inspirationen für Herzensbegegnungen mit Gott, Nelli Bangert, Mira Weiss, Gerth Medien 2020, 17,00 Euro

Beten – ein Selbstversuch, Klaus Douglass, Adeo 2019, 18,00 Euro (50 unterschiedliche Gebetsformen werden vorgestellt).