Der Herr segne dich!

Auslegung für den 7.Juni 2020 von Hartmut Kraft

Und der Herr redete mit Mose und sprach: „Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.“


4. Mose 6,22-27

Was brauchst Du?


Zu unserem Beruf als Pastoren der Evangelisch-methodistischen
Kirche gehört es, von Zeit zu Zeit eine neue
Dienstzuweisung zu bekommen und umziehen zu müssen.
Zum Nachteil, alles immer wieder einpacken zu
müssen, gesellt sich der Vorteil, ab und zu ausmisten
zu müssen. Dabei stellen sich immer wieder Fragen.
Was brauchen wir in der Zukunft? Was muss mit? Was
darf mit? Von was können wir uns auch verabschieden?
Dieser Vorgang ist nicht immer leicht, auch wenn er für
uns mittlerweile geübt ist.
Falls jemand jetzt die Frage hat, ob wir gerade planen,
weiterzuziehen: Nein, das planen wir nicht. Aber Meiner
Erfahrung nach führt der Vorgang des Umziehens
in die Nähe unseres heutigen Themas. Alle, die in der
Vergangenheit umziehen mussten, werden die oben
beschriebenen Gedanken kennen. Und wer von uns
nach vielleicht einigen Jahrzehnten im eigenen Haus
einen Wohnungswechsel durchgeführt hat, weiß, dass
mit jedem Jahr im alten Haus die Frage nach dem, wovon
man sich trennt, schwieriger wird.
Solche Fragen gehen an das Eingemachte im eigenen
Leben, denn mit vielen Dingen, die wir besitzen, verbinden
sich Erinnerungen. So wird aus der bloßen Frage,
was in welche Umzugskiste kommt oder draußen
bleibt und ob bzw. wo alles in der neuen Wohnung
Platz findet, eine ganz andere Fragestellung: Was
brauchst du zum Leben?
Wovon lebe ich wirklich? Sind es bestimmte Dinge, die
ich erworben und lieb gewonnen habe? Sind es gewohnte
Umgebungen und das Wissen, dass alles „seinen“
Platz hat? Dies hat auch sicherlich seinen Wert.
Auf der anderen Seite wissen wir alle genau, dass wir
„hier keine bleibende Stadt“ haben, wie es in Hebräer
13,14 heißt. Also noch einmal die Frage: Wovon lebe
ich wirklich? Wovon lebst du wirklich?


Die Sehnsucht nach Halt
Als wir vor einigen Jahren wieder einmal umziehen
mussten, haben wir die neue Wohnung leer von den
bisherigen Bewohnern übernommen. Ihr Wagen stand
vollgepackt vor der Tür. Der Möbelwagen war bereits
losgefahren. Zusammen gingen wir durch alle Zimmer
und bekamen noch die eine oder andere wichtige Erklärung.
Schließlich standen wir als zwei Ehepaare in
der Küche, bereit zur Verabschiedung. Da tastete sich
der bisherige Bewohner zu unserer Überraschung heran,
in dem er sagte: „Sie beide haben doch von Berufs
wegen einen guten Draht nach oben. Wir haben uns
gefragt, ob es möglich wäre, dass sie für uns und unsere
Zukunft beten würden?“
Man muss wirklich kein Kirchgänger sein, um ein Gespür
dafür zu entwickeln, dass all unsere Gewohnheiten,
Vorlieben und die Art, wie wir uns unser Leben zurecht
gelegt haben, nur einen vorläufigen Charakter
haben. Auch die Dankbarkeit für das, was wir uns erworben
und was wir geleistet haben, sollte uns nicht
zur irrigen Meinung verleiten, dass dies alles Frieden
für die eigene Seele bedeuten würde. Die Bitte des
Ehepaares an uns, für sie zu beten brachte dieses Wissen
zum Ausdruck. Selbstverständlich haben wir es getan
und Gottes Segen für sie erbeten.


Gott will dich segnen
Veränderungen im eigenen Leben stellen die Frage
nach dem persönlichen inneren Halt für einen kurzen
Moment in den Vordergrund. Nur zu schnell gewöhnt
man sich dann an die neue Umgebung und es besteht
die starke Versuchung, die eben aufgebrochenen Frage
wieder von anderen Stimmen übertönen zu lassen.
Auch beim Volk Israel war das nicht anders. Während
der Wüstenwanderung von Ägypten nach Kanaan
spricht Gott dem Volk die berühmten Segensworte zu,
die bei uns oft am Ende des Gottesdienstes zu hören
sind. Es sind alte Worte, die Gott Aaron und seine Söhne
zu sagen beauftragt und die deshalb auch „Aaroni-
tischer Segen“ heißen. Die 1979 in Ketef Hinnom südwestlich
der Jerusalemer Altstadt gefundenen fast
2700 Jahre alten Silberbleche werden heute im Jerusalem
Museum aufbewahrt und zeigen u.a. den Text
aus 4. Mose 6 (siehe Bild).
Zuerst ist dieser Segen dem Volk Gottes gesagt: „So
sollt ihr sagen zu den Israeliten...“. Die Wüstenwanderung
war eine Zeit der Herausforderung. Immer wieder
rang das Volk mit der Bereitschaft, sich Gott anzuvertrauen.
Mose und Aaron standen oft regelrecht im
Feuer und mussten sich harte Vorwürfe anhören. Die
berühmten „Fleischtöpfe Ägyptens“ (2. Mose 16,3) erschienen
trotz der seinerzeit erlittenen Unterdrückung
als Sklaven mit einem Mal attraktiver als die Führung
Gottes. Gott wird nicht müde, das Volk einzuladen, ihm
zu vertrauen.
In Christus ist uns dieser Segen auch zugesagt. Auch
wir dürfen für uns hören und annehmen, dass die Gegenwart
Gottes nicht auf das Kirchengebäude oder einige
Momente des alltäglichen Gebets beschränkt ist.
Gottes Zusage gilt immer. Lass dich unter der Woche
erinnern an die Zusage Gottes, die im Segen liegt. Es
ist kein schwieriger Arzttermin, keine Minute im Beruf,
kein Moment des Familienlebens oder des Alleinseins,
den du ohne Gottes Segen leben musst. Darauf kannst
du dich verlassen.


Genau du bist gemeint
Mancherorts kann man eine andere als die biblische
Variante des Segens hören. Dann heißt es oft „Der
Herr segne euch...“ Im Original heißt es „Der Herr
segne dich...“
Segensworte müssen nicht aus Bibelworten bestehen.
Insofern ist es absolut zulässig, von euch statt von du
zu sprechen. Außerdem wird ja nichts Falsches gesagt.
Gottes Segen gilt auch für uns als Gemeinschaft.
Und trotzdem ist es mehr als eine sprachliche Variante,
am Ende des Gottesdienstes eine Gemeinde als eine
Gruppe von Einzelpersonen mit „du“ anzusprechen.
Dabei geht es gar nicht um den seit der Zeit der Aufklärung
aufkeimenden und heute postmodern voll entfalteten
Individualismus. Der hat nämlich das eigene Ich
als Dreh- und Angelpunkt des Lebens. Nein, es geht
um einen der roten Fäden, die sich durch die Bibel ziehen
und der in Jesaja 43,1 auf den Punkt gebracht
wird: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich
habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
Darum wird der Aaronitische Segen in der Du-Form gesprochen.
Du und ich, jede einzelne Person ist für Gott
wichtig. All die gesellschaftlichen Unterschiede, die
unser tägliches Leben prägen, verlieren vor Gott ihre
Bedeutung. Der Segen gilt für dich. Denn du bist für
Gott wertvoll. Du bist geliebt. Für dich hat er sich in
Christus verwendet. Er will, dass du lebst.

 

Lass es für dich geschehen

Eine Besonderheit des Aaronitischen Segens wie auch anderer Segensworte liegt darin, dass man sie sich

normalerweise nicht selbst zusprechen kann. Ja, ich
kann mich daran erinnern, gesegnet zu sein, aber ich
kann mir den Segen nicht einfach nehmen. Als ich einmal
in einer innere Krise im Hinblick auf meinen
Dienst geraten bin, wurde es für mich bedeutungsvoll,
bei meiner Ordination, die ja auch ein Segen ist, von
anderen gesegnet worden zu sein. Ich habe mir diesen
Segen nicht angeeignet, sondern im Namen Gottes haben
andere ihn mir zugesprochen.
Rembrandt hat es in seinem Bild über den sog. verlorenen
Sohn genauso dargestellt. Der Vater spricht den
Segen zu, der Sohn empfängt ihn. Gott ist in seinem
Handeln unverfügbar, aber er segnet gern und reichlich.
Ein Segen ist eben kein Gebet, sondern ein wirkungsvoller
Zuspruch im Namen Gottes.
In der Geste, die Rembrandt malte, wird auch deutlich,
dass ein Segen durchaus etwas körperliches ist. Wir
haben es uns leider in vielen Jahrzehnten abgewöhnt,
körperliche Nähe zuzulassen. Aber gerade beim Segen
machen Gesten und Nähe deutlich, dass Gott an dir
und mir handelt. Im Gottesdienst geschieht dies mit
erhobenen Händen. Bei persönlichen Segenshandlungen
werden die Hände aufgelegt. Mit Herz und Verstand,
mit unserem ganzen Sein spüren wir die Nähe
Gottes.
Und das ist nicht nur Hauptamtlichen möglich. Segnen
dürfen und können wir alle. Denn den „Draht nach
oben“, von dem unsere vorherigen Wohnungsinhaber
sprachen, haben wir alle, wie es in der Bibel steht.
Vielleicht müssen wir es neu einüben, den Segen Gottes
bewusst in Anspruch zu nehmen. Gott steht jedenfalls
bereit, so, wie er dem Volk Israel gesagt hat, diesen
Segen immer wieder auszusprechen.


Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden
Hartmut Kraft