Der reichhaltige Segen Gottes

Auslegung für den 3. Mai 2020 von Hartmut Kraft

Jeder soll dem anderen mit der Begabung dienen,  die ihm Gott gegeben hat. Wenn ihr die vielfältigen  Gaben Gottes in dieser Weise gebraucht, setzt ihr  sie richtig ein.

Petrus 4,10 

„Haben sie gedient?“ 

Zunächst einmal stocke ich beim Lesen des Bibelverses,  der der Monatsspruch für Mai ist: „Jeder soll dem  anderen mit der Begabung dienen...“ Das Wort ‚dienen‘  ist aus der Mode gekommen. Es entspricht kaum  dem postmodernen Zeitgeist, der mehr von der Entfaltung  und Verwirklichung der eigenen Ideen und Persönlichkeit  geprägt ist. Aber auch unsere deutsche Geschichte  spielt eine Rolle, wenn ich mir Rechenschaft  abgebe, mit welcher Konnotation ich das Wort ‚dienen‘  höre.  Der Schuster Wilhelm Voigt ist die Hauptfigur im Film  „Der Hauptmann von Köpenick“, seinerzeit klassisch  verkörpert von Heinz Rühmann. Bevor es zu seinem  genialen Auftritt als falschem Hauptmann kommt, versucht  er, sich auf verschiedene Stellen zu bewerben.  Immer scheitert er daran, dass er die Frage der Arbeitgeber  „Haben Sie gedient?“ mit „Nein“ beantworten  muss. Carl Zuckmayers Hauptmann von Köpenick, oft  nur als nette Komödie wahrgenommen, war im Nachkriegsdeutschland  der 50er Jahre auch eine Kritik an  gesellschaftlichen Zuständen und Prägungen.  Sicher haben wir alle unterschiedliche Zugänge zum  Wort ‚dienen‘ und den damit verbundenen Haltungen.  Manche haben vielleicht einen völlig vorbehaltlosen  Zugang zum Wort ‚dienen‘. Die Bandbreite ist groß  und man muss aufpassen, die Bedeutung eines Begriffs  nicht nur aus einem Zusammenhang heraus zu  versuchen. Diese Überlegungen zeigen, dass unser Lesen  in der Bibel nicht unvoreingenommen geschieht.  Wörter, Bilder und Vergleiche lösen bei uns Reaktionen  aus, die mit unserer Erfahrung und Prägung zu tun haben.  Umso mehr ist es hilfreich, den biblischen Zusammenhang  in seiner ursprünglichen Aussage wahrzunehmen. 

Liebevolle Gemeinschaft statt Pflichterfüllung

Die Christinnen und Christen, die den vorliegenden Bibeltext  zuerst gelesenen haben, waren in einer besonderen  Situation. Sie hatten erlebt, wie neue Gemeinden  entstanden waren. Das Evangelium breitete sich  aus. Dies geschah sicherlich nicht mehr in dem atemberaubenden  Tempo, von dem uns in der Apostelgeschichte  über die ersten Tage nach Pfingsten berichtet  wird, aber es war spürbar. An vielen Orten in immer  neuen Gegenden kamen Menschen zum Glauben an Jesus  Christus und es wurden Gemeinden gegründet.  Aber auch eine andere Entwicklung wurde immer stärker:  Die Verfolgung der jungen christlichen Gemeinden  nahm stark zu. Der Druck von außen, sich dem offiziellen  Kaiserkult anzuschließen, nahm zu. Immer wieder  mussten die Christen erleben, für alles mögliche als  Sündenböcke herzuhalten. Es wurde gelitten. Die Gefahr  für Leib und Leben war real.  Für die jungen Gemeinden war es elementar wichtig, in  all dem Gemeinschaft und die Nähe Gottes zu erfahren.  Halt fand man in der Gemeinde, zusammen mit all  den anderen, die an Jesus glaubten. Hier gab es Menschen,  denen man vertrauen konnte und die die eigene  Situation selbst genau kannten. Es wurde miteinander  gelacht und geweint, gebetet und einander getragen.  Und es gab auch manche, die angesichts der äußeren  Anfeindungen kurz davor waren, den Glauben  aufzugeben. Wer den Abschnitt des 1. Petrusbriefs um  unseren Vers herum liest, spürt etwas von der tiefen  Glaubenshoffnung und der täglichen Anspannung zugleich.  Einander zu dienen hatte damals nichts zu tun mit unterwürfigem  Verhalten oder Gemeinderaison. Man  könnte es vielmehr übersetzen mit ‚füreinander da  sein mit den Möglichkeiten, die Gott uns gegeben hat‘.  In der angespannten Situation haben die Menschen in  den Gemeinden erlebt, wie Gott sie begleitet und ihnen  das gibt, was zum Leben nötig ist. Das, was jede  und jeder als Geschenk Gottes erkannt hat, wurde zum  Wohl aller eingesetzt. So gab man etwas, erlebte aber  auch den Segen durch die anderen. Die Gemeinschaft  wurde stark. In allem wurde zuallererst Gottes Liebe  erkannt.  Für uns stellen sich aus diesem Ergehen der damaligen  Gemeinden Fragen. Wir kann der Zusammenhang des  1. Petrusbriefs auf uns angewendet werden? 

Eine Gemeinde der Beschenkten

Wenn davon die Rede ist, dass alle ihre Gaben zum  Wohl der anderen einsetzen, ist vorausgesetzt, dass  sie um ihre Gaben und die der anderen wissen. Wie ist  das bei uns? Haben wir eine Vorstellung davon, was  Gott in unser Leben hineingelegt hat? Glauben wir  überhaupt, dass Gott das getan hat?  Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, die ich vor Jahren  einmal in einer weit entfernten Gemeinde mit einer  Person hatte, die mir sagte: „Ich habe keine Gaben.  Andere haben so etwas, aber an mir ist das vorüber  gegangen.“ Es wurde bald klar, dass diese Person  unter Gaben ganz besondere Fähigkeiten verstand. Da  sie nicht zu den Musikern gehörte und in Gottesdiensten  auch nicht vorn vor der Gemeinde agierte  und zudem in keinem Gremium der Gemeinde saß,  dachte sie, keine Gabe zu haben.  Solche Haltungen und Meinungen spiegeln ein Stück  unbewusst gelebte Gemeindekultur wieder, in der  Menschen letztlich in wichtig und unwichtig unterteilt  werden. Die über Jahrzehnte gelebte Struktur und Kultur  unserer Gemeinden förderte wie in anderen Kirchen  auch einen sehr weltlichen Umgang mit Ämtern  und Aufgaben. Die Wertschätzung einer Person gegenüber  verdeutlichte ihre Rolle in der Gemeinde.  Es gehört zu den steten Herausforderungen in einer  Gemeinde, den Blickwinkel des Evangeliums zu erhalten.  Wie schnell wird übereinander geurteilt, werden  andere in der Gemeinde eingeschätzt und in Schubladen  gepackt, weil wir dies aus unserem sonstigen Leben  so gewohnt sind?! Paulus weist im 1. Korintherbrief  12,22 darauf hin, dass die normale, gesellschaftlich  geprägte Weltsicht nicht der Blick ist, den Gott auf  uns wirft und zu dem er uns anleiten möchte: „Vielmehr  sind gerade die Teile des Körpers, die schwächer  und unbedeutender erscheinen, besonders wichtig.“  Lasst uns einander achten und lieben, weil wir von  Gott beschenkt sind. Der eine kann selbstbewusst vorne  vor den anderen stehen, der andere nicht. Die eine  kann geschliffen reden, der anderen fällt das schwer.  Wir habe solche, die Musik machen können, andere,  die einen Blick für Raumgestaltung haben. Wir haben  Geschwister, die ein Gespür dafür haben, wie es anderen  geht. Es gibt solche, die für andere intensiv beten  und wieder andere, die praktisch helfen. Die Reihe  kann beliebig fortgesetzt werden.  Wir sind Gemeinden von Beschenkten. Gott war nicht  knauserig, als er uns alle mit sehr unterschiedlichen  Gaben, Persönlichkeiten und Möglichkeiten ausgestattet  hat. Das Problem ist nicht, dass Gott es nicht getan  hätte, die Herausforderung ist, dies zu erkennen und  anzunehmen.

Siehst du die Gaben der anderen?

Die Gaben anzunehmen ist sowohl eine gemeinschaftliche  als auch eine persönliche Herausforderung.  Eine gemeinschaftliche Herausforderung ist es deswegen,  weil die Erkenntnis, dass alle in der Gemeinde mit  Gaben beschenkt worden sind, meine eigenen Gaben  in Beziehung setzt. Es ist nicht die Frage, ob andere  Gaben haben, sondern nur welche es sind. Paulus  schreibt im Zusammenhang mit den Gaben (1. Korinther  12,7): „Durch einen jeden offenbart sich der Geist  zum Nutzen aller.“  Kannst du dich freuen, dass andere Gaben haben, die  du nicht hast? Kannst du Gott für die Vielfalt an Gaben  und Persönlichkeiten danken, die er dir durch die  Glaubensgeschwister gegeben hat? Manchmal ist gerade  dies für uns eine Herausforderung. Vielfalt ist nicht  nur schön, sondern kann auch strapazieren. Insofern  kann man sagen, dass Gottes Gaben auch immer eine  Zumutung an uns sind - nicht weil Gott uns ärgern  wollte, wohl aber, weil er uns aus der Engführung eigener  Gedanken herausholen will. Bewusst von Gottes  Gaben zu leben heißt darum immer, den weiten Atem  Gottes durch das eigene Leben wehen zu lassen.

Kennst du deine Gabe?

Nun kommt die persönliche Herausforderung. Eigentlich  könnte man ja sagen: „Ich nehme alles mit, was  ich bekommen kann, auch die Gaben Gottes.“ Aber so  einfach ist das nicht.  Nicht nur im Miteinander kann es zur Herausforderung  werden, wenn die Gaben anderer so gar nicht zu meinen  Vorlieben, Neigungen oder Meinungen passen  wollen. Ich kann auch in Konflikt mit mir selbst geraten,  wenn ich spüre, was Gott in mein Leben hineingelegt  hat, ich dazu aber kaum Ja sagen kann.  In der Bibel wird das manchmal durchdiskutiert, wenn  es zu Berufungen kommt und die betreffenden Personen  überzeugt sind, dass Gott sich gerade den Falschen  ausgesucht hat (vgl. Mose, Gideon). Auch wenn  klar ist, dass eine Berufung und eine Gabe Gottes zweierlei  ist, so geht es doch immer um die Frage, ob ich  einen Weg, den Gott mit mir gehen will, mitgehen  möchte.  Wer auf der Suche nach dem ist, was Gott einem sozusagen  als Sonderausstattung mitgegeben hat, sollte  mit dem Gebet beginnen. Bitte Gott, dir zu zeigen, was  deine Gaben sind. Manchmal ist das schon erkennbar,  wenn man auf das eigen Leben schaut. Manchmal ist es  ein Weg, die eigene Gabe zu entdecken, weil man sich  in dem entsprechenden Bereich bisher gar nicht betätigt  hat und auch nicht sofort auf die Idee kommt, dort  zu suchen. Um deine Gaben zu entdecken, brauchst du  Menschen, mit denen du vertrauensvoll sprechen  kannst.  Gott möchte, dass durch dein Leben, deine Persönlichkeit  etwas von seiner Größe deutlich wird auf eine Weise,  dass es für andere zum Segen wird. Das ist sein  Ziel. Gaben eignen sich nicht zur Profilierung und sollten  kein Grund für gegenseitigen Neid sein. Wenn sie  als das erkannt und gelebt werden, was sie sind, nämlich  Geschenke Gottes, bewirken sie eine neue Form  der Gemeinschaft. Was Gott schenkt, steht im Vordergrund,  nicht was wir können oder erworben haben.  Damit bildet eine Gemeinde nicht mehr länger das normale  gesellschaftliche Gefüge „nur in fromm“ ab, sondern  stellt eine echte Alternative dar. „Wo aber der  Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt Paulus (2.  Korinther 3,17). Das ist der große Rahmen, in den der  Text aus 1. Petrus 4 hineingehört.  Ob es normale Zeiten sind oder wir uns in Coronazeiten  befinden - fragt nach dem, was Gott in euer Leben hineingelegt  hat. Bringt es in die Gemeinde ein. Lasst  aber auch andere Menschen um euch herum teilhaben  an dem, was Gott euch geschenkt hat. Die Güte Gottes  ist für alle da, die Einladung dazu gilt allen.

Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden,

Hartmut Kraft