Wer von uns ist nicht schon einmal im Urlaub dem Charme eines italienischen Obsthändlers erlegen?! Freundlich, phantasievoll in allen möglichen Sprachen, ein bisschen laut, ein bisschen frech. Immer etwas zum Probieren. Und auf jeden Fall ist klar: Gerade an seinem Stand gibt es die beste Qualität der ganzen Region und den besten Preis, über den natürlich auch noch verhandelt und gefeilscht werden darf. Es ist doch klar: Auch den besten Produkten tut es gut, wenn sie unterhaltsam angeboten werden. Ähnlich geht es jeweils am dritten Juni-Wochenende hier in Erfurt beim Krämerbrückenfest und dem angrenzenden Mittelaltermarkt zu: Sommerliches Flair. Abwechslungsreiches Rahmenprogramm. Freundlich-heitere Verkäufer und sonntäglich-entspannte Marktbummler. Leider fällt dieses bunte Treiben um unsere Kirche herum an diesem Wochenende coronabedingt aus.

Wir alle kennen vermutlich aber auch das Andere: Laut und mit vollmundigen Versprechungen locken sie vor Kaufhäusern ihre Kunden an. Ich meine die sogenannten „Marktschreier“. Ihre Auftritte sind durchaus unterhaltsam. Aber der Redeschwall, mit dem sie ihre Ware anpreisen, ist mir doch zu verdächtig. Was so viele aufdringliche Worte nötig hat, kann nicht viel taugen. Dennoch sind die Menschentrauben vor solchen Ständen oft groß. Je schriller, desto größer die Aufmerksamkeit.

Es gibt da aber noch eine ganz andere Art von „Marktschreiern“. Sie haben keine Teflonpfannen oder Küchenmesser im Angebot. Sie bieten Patentrezepte an – Patentrezepte, mit denen sie eine komplizierte Welt einfach machen. Simple Lösungen für unübersichtlichen Zeiten. Sie verschleudern festen Zusammenhalt gegen alles, was anders ist. Sie verhökern Geheimwissen, das die durcheinandergebrachte Welt vom Kopf wieder auf die Füße stellen soll. Sie verkaufen Sicherheit gegen Ungewissheit und Bedrohung. Nichts ist zu schräg, nichts zu bizarr oder zu abgedreht, als dass es Abnehmer finden würde. Viel Geld wechselt hier mitunter den Besitzer, sehr viel Geld!

Doch das Wichtigste im Leben können wir nicht erwerben, wir können es nur geschenkt bekommen. Geliebt-Werden und Angenommen-Sein kann man sich nicht kaufen. Wirkliche Freundschaft und Vertrauen gibt‘s gerade nicht gegen Geld. Sinn und Geborgenheit? – Bloß gut, dass man dies alles nicht kaufen kann! Zufriedenheit und Erfüllung gibt es nur umsonst, gratis! Materieller Reichtum ist hier keinen Vorteil. Armut ist kein Nachteil. Das ist doch einmal richtig gut! – Dass dies so ist, ist eine Erfindung des lebendigen Gottes. Genau so hat er uns und unsere Welt geschaffen. Er will, dass alle ein erfülltes Leben haben können. Materielle Möglichkeiten, Bildung oder Intelligenz, moralische Standards. Sie verschaffen keinen Vorzug. Lebenserfüllung gibt es gratis, gleichermaßen für alle.

Gott will den Hunger und Durst nach gelingendem Leben stillen. Er ist ein leidenschaftlich und großzügig schenkender Gott. So begibt er sich auf die Marktplätze des Lebens, bietet an, wirbt und lädt ein. Er stellt sich gewissermaßen der „Konkurrenz“. Beim Propheten Jesaja im 55. Kapitel klingt das dann so:

Der Herr ruft: „Ihr habt Durst? Kommt her, hier gibt es Wasser! Auch wer kein Geld hat, kann kommen. Nehmt euch Brot und esst! Hierher! Hier gibt es Wein und Milch. Bedient euch, es kostet nichts! Warum gebt ihr euer sauer verdientes Geld aus für Brot, das nichts taugt, und  für Nahrung, die euch nicht sättigt? Hört doch auf mich und tut, was ich sage, dann habt ihr es gut! Ihr dürft köstliche Speisen genießen und euch daran satt essen. Hört mir zu und kommt her! Ja, nehmt meine Worte an, dann werdet ihr leben!“

Jesaja 55,1-3a (Hoffnung für alle)

Diese Einladung ist eindringlich, aber sie ist nicht aufdringlich. Sie ist auch nicht vollmundig, sondern vollmächtig. Gott spricht uns zu, dass der Durst und der Hunger nach erfülltem Leben bei ihm gestillt werden darf. Keine Mogelpackung. Keine Schleuderware. Sein Wort bewirkt, was es sagt.

Bei Gott gibt es erfülltes Leben — gratis. Mit dem Hören auf das, was Gott sagt, fängt es an. Mehr ist gar nicht nötig. Da erklingen dann Sätze, die wir uns nicht selbst sagen können: „Du bist gewollt.“ „Du bist wertvoll.“ „Du bist mir wichtig.“ Mit solchen Worten von Gott beginnt das erfüllte Leben. „Dein Leben hat Bedeutung.“ „Deine Schuld hat kein Recht mehr auf dich.“ „Was dein Leben gefährdet und bedroht, behält nicht das letzte Wort.“ Diesen Worten Vertrauen zu schenken – zumindest ein bisschen – verändert alles. Sie bewirken, was sie sagen. Sie sind stark genug und wahr genug, damit Leben aufblüht und Erfüllung findet.

Gottes Worte, die den Hunger und Durst des Lebens stillen, sind leise und behutsam. Im schrillen Geplärr effekthaschender Stimmen werden sie leicht überhört. Doch gerade auf diese leisen Worte kommt es an. Die lautstarken Blender ausblenden und Gottes Worten bewusst nachlauschen – darauf kommt es an. Weiter nichts. Und das alles gratis! Aus Gnade!

„Hört doch auf mich. (…) Kommt her (…) dann werdet ihr leben!“- Eindringlich erklingt diese Einladung dreimal hintereinander beim Propheten Jesaja! Und sie wird später auf ganz besondere Weise nochmals wiederholt, als Gott in Jesus Christus auf die Welt kommt und ruft: “Kommt alle zu mir her, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!“ (Mt 11,28)

Erfülltes Leben – Es ist nicht nur dort zu erfahren, wo alle unsere Wünsche erfüllt sind. „Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche“, so Dietrich Bonhoeffer. Das Schwere, das Misslungene und Beschädigte unseres Lebens muss nicht ignoriert werden. Auch da hinein dringt das Wort des Lebens. Es hält und trägt unser ganzes Leben. Der lebendige Gott schenkt leidenschaftlich gern großzügig. Er stillt unseren Lebenshunger und Lebensdurst. Gratis!

Bei Gott gibt es erfülltes Leben für alle, die bereit sind, zuzugreifen. Gratis für jeden einzelnen Menschen, egal welche Hautfarbe, egal ob im Zentrum oder am Rand der Gesellschaft, egal ob in Deutschland geboren oder in Afghanistan, egal ob Single oder mit Familie lebend, egal welche sexuelle Orientierung, egal ob krank oder gesund. Gratis für alle! Jeder Mensch zählt.

Tag für Tag dürfen wir uns auf dieses Versprechen beziehen: Kommen. Nehmen. Kosten. Genießen. Sattwerden. Leben in Fülle. Das gilt euch, die ihr im neuen Konferenzjahr eine veränderte Dienstzuweisung erhaltet. Das gilt, wenn ihr über die Brücke vom Seitherigen zum Künftigen geht. Das befähigt zum Loslassen des Alten und zum Freiwerden für das Neue. Tag für Tag nehmen – das gilt euch, die ihr die coronabedingte Enge eurer Wohnung kaum mehr ertragen könnt; die Einsamkeit der vier Wände, oder den nicht enden wollenden Stress von Home-Schooling und Home-Office oder gar Schichtarbeit. Sattwerden – das gilt euch, die ihr euch fremd fühlt in unserer Gesellschaft mit ihren rasanten Umbrüchen. Euch, denen die derzeit offene Situation unserer Kirche zusetzt. Die Botschaft von Gottes groß  zügig schenkender Gnade, die uneingeschränkt allen gilt, bleibt zuverlässig über alle Veränderungen hinweg.

Unser leidenschaftlich großzügiger Gott wirbt und lädt ein: Ihr habt Durst? Kommt her! Nehmt euch Brot und esst! Hierher! Hier gibt es Wein und Milch. Bedient euch, es kostet nichts! (…) Hört mir zu und kommt her! Ja, nehmt meine Worte an, dann werdet ihr leben! Tag für Tag dürfen wir uns auf dieses Versprechen beziehen und davon leben.

Ausgezeichnet schmeckt dieses Leben aus Gott, wie duftendes Brot, wie nährende Milch, wie vollmundiger Wein. Wir dürfen uns ganz persönlich daran erfreuen. Doch wie vielfältig und fein das Aroma tatsächlich ist, entfaltet sich erst dort, wo wir es mit anderen teilen. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam zu kosten, gemeinsam zu genießen, gemeinsam satt zu werden!

Darum, liebe Schwestern und Brüder, teilt Gottes Einladung zum Leben mit anderen: Baut weiter an den Brücken zu den Menschen in eurer unmittelbaren Nachbarschaft, die ihr vielleicht während der Corona-Zeit überhaupt erst wahrgenommen habt. Bleibt den Sterbenden und den Bewohnern von Pflegeheimen nahe. Seid eine Brücke hinein in deren Einsamkeit. Geht mutig über die schwankende Brücke zu denen, die unsere Solidarität brauchen, weil sie angefeindet werden nur weil sie anders sprechen oder aussehen als die Mehrheit in unserem Land. Seit weiterhin Brückenleute gegenüber den Menschen in den Asyl- und Flüchtlingsheimen. Sucht Nähe zu denjenigen, die Möglichkeit und Einfluss haben auf politische Entscheidungen, damit in unserem Land, in Europa und weltweit Brücken gebaut, statt Mauern und Zäune errichtet werden.

Unsere Gesellschaft ist zerrissen und zerreißt immer weiter. Es gibt kaum ein Thema, das derzeit nicht herhalten muss, um Polarisierungen zu verstärken. Der eigene Lebenshunger scheint nur auf Kosten anderer gestillt werden zu können. Respekt vor einander, zuhören und verstehen wollen sind im Schwinden begriffen. Die Botschaft vom Leben aus Gott, das gratis für alle zu haben ist, beinhaltet demgegenüber die unwiderstehliche Kraft, Gräben zwischen Menschen zu überwinden. Sie widerspricht unmissverständlich und kompromisslos allen Worten, Haltungen und Handlungen, die Menschen ausgrenzen, kleinmachen, verletzen, bedrohen oder ihnen die Würde rauben. Und zugleich bleiben die Menschen, die solch inakzeptable Dinge vertreten, im Blick; sie bleiben im Blick als Mensch, denen das Gratis-Angebot des Lebens aus Gott ebenfalls gilt.

Liebe Schwestern und Brüder, lasst uns Gottes Einladung zum Leben jedoch auch unter uns immer wieder teilen. Diese Botschaft ist stark genug, um uns in der derzeitigen Situation unserer Kirche zusammenzuhalten. Sie ist die Brücke, die uns verbindet über unterschiedliche Einsichten und Erkenntnisse hinweg. Zu Gott kommen, nehmen, kosten, genießen und sattwerden – davon leben „Konservative“ und „Progressive“ gleichermaßen. Davon leben „Starke“ und „Schwache“. Davon leben wir alle – gemeinsam! Gemeinsam schöpfen wir aus Gottes Gnade.

»Ihr habt Durst? Kommt her! Nehmt euch Brot und esst! Hierher! Hier gibt es Wein und Milch. Bedient euch, es kostet nichts! (…) Hört mir zu und kommt her! Ja, nehmt meine Worte an, dann werdet ihr leben!“ Mit dieser Botschaft seid ihr ins neue Konferenzjahr gesandt, um selbst davon zu leben und sie mit anderen zu teilen. Möge Gottes Geist euch inspirieren, ehrlich und mutig, gelassen und mit weitem Herzen anderen zu begegnen. Gott segne euch.

Amen.

 

© 2020 – Bischof Harald Rückert

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