Jesus, das Gegenmodell

Auslegung für den 29. März 2020 von Hartmut Kraft

 

Der Menschensohn ist nicht gekommen,

dass er sich dienen lasse,

sondern dass er diene

und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Matthäus 20,28

 

 

Das Virus „Ego 2020“

Heute las ich auf der Internetseite eines Nachrichtenmagazins den Artikel einer Kommentatorin, in dem die Folgen der Corona-Krise für das politische Führungspersonal in den unterschiedlichen Staaten beleuchtet wurde. Besonders ging es dabei um solche Politiker, die sich in Krisenzeiten wie diesen zunächst einmal sehr vollmundig und selbstbewusst gaben, um dann wenige Tage später Stück für Stück zurückzurudern, weil sie die Dinge eben doch nicht im Griff haben. Ein Satz aus dem Artikel ist bei mir hängen geblieben: „Nicht nur Covid-19, sondern auch ‚Ego 2020‘ zeigt sich als brandgefährliches Virus.“1


Diese Formulierung ließ mich ins Nachdenken kommen. Sicher ist es bei manchen populistisch agierenden Politikern überdeutlich, dass es ihnen mehr um Selbstdarstellung als um sachgerechte Arbeit zu Gunsten der Menschen geht. Dankbar bin ich dafür, in unserem Land zu erleben, dass es auch die anderen gibt, die das Wohl der Bevölkerung in all den Herausforderungen im Blick behalten.


Aber der Satz der Kommentatorin ließ meine Gedanken weitere Kreise ziehen. Das Virus „Ego 2020“, wie sie es nennt, ist beileibe kein Problem des Gebarens einzelner Politiker. Die Meldungen und Bilder der vergangenen Tage lassen auf eine weite Verbreitung dieser „Infektion“ schließen. Bei einigen Zeitgenossen müssen mittlerweile ganze Vorratsräume mit Klopapierrollen und Nudelpackungen angefüllt sein und wann und wie sie das alles verbrauchen wollen, bleibt wohl ihr Geheimnis. Aus manchen Supermärkten wird von Rangeleien um die letzten zu ergatternden
Packungen berichtet. Zum Glück scheint sich manches zu beruhigen, einzelne unverdrossene Hamsterkäufer ausgenommen. Zwei Einsichten lassen sich benennen:


Zum einen fördert eine Krisensituation bei vielen einen Reflex, der sie zuerst fast ausnahmslos auf sich selbst schauen lässt. Neben manchen ernst zu nehmenden Zusammenhängen der Krise werden eben auch sich panisch Bahn brechende Grundängste deutlich. Und bei manchen verhindert dies einen rationalen und besonnenen Umgang mit der Situation.


Zum anderen zeigt sich auch in der aktuellen Krise eine gesellschaftliche Grundbefindlichkeit, die sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich aufgebaut hat: Wir leben schon lange in einer Ellenbogengesellschaft. Das Virus „Ego 2020“ ist eben letztlich nur eine Spielart des bekannten Virus „Wo ich bin, ist vorn“. Was sich heute im Virus „Ego 2020“ zeigt, hat eine sehr lange Inkubationszeit.

Das alles hat noch nichts mit dem Bibelvers zu tun, der oben auf der Seite steht? Doch, hat es. Wir sind mitten drin in den Zusammenhängen dessen, was dort über Jesus gesagt wird.


Gottes ganz anderer Weg


Jesus ist das Gegenmodell Gottes. Er ist „nicht gekommen, dass er sich dienen lasse“, heißt es im Matthäusevangelium 20,28. Der Vers ist der Wochenspruch für die am Sonntag beginnende Woche. Jedes Jahr am 5. Sonntag der Passionszeit wird er als biblischer Leitvers gelesen.


Jesus beschreibt damit einerseits seine Art und Weise zu leben und aufzutreten. Jesus hatte keine Starallüren, hielt nicht ab und zu Hof. Er hat nicht nur jede Sonderbehandlung für sich abgelehnt, sondern sogar die Regeln der negativen „Sonderbehandlungen“ für diejenigen durchbrochen, die ganz unten in der gesellschaftlichen Rangliste standen. Er hat sich aus der Perspektive derer, denen Titel und gesellschaftliches Ansehen besonders wichtig sind, die Hände schmutzig gemacht. Er hat die Welt nicht in „rein“ und „unrein“, nicht in „wir“ und „die anderen“ unterteilt. Mit allen, die dies wollten, hat er Gemeinschaft gepflegt.


Zum anderen spricht Jesus mit diesem Wort den grundsätzlichen Zusammenhang seiner Sendung an. Immer wenn Jesus von sich als dem „Menschensohn“ spricht, geht es ihm nicht um die einzelne Situation, sondern er spricht als der von Gott gesandte Erlöser.


Hinter dem Bild vom Lösegeld stehen alttestamentliche Rechtsvorstellungen. Ein Mensch, der sein Leben nach dem Gesetz verwirkt hatte, konnte es unter bestimmten Voraussetzungen durch ein Lösegeld oder Sühnegeld auslösen (2. Mose 21,30). Indem Jesus diesen Begriff alter Rechtsprechung aufnimmt, macht er ihn zu einem Bild für die grundsätzliche Situation des Menschen vor Gott.

Weder durch das, als welche wir uns ohne unser Zutun vorfinden (Geschlecht, Familie, Herkunft, Aussehen, soziale Schicht, ...), noch durch das, was wir aus unserem Leben machen (Beruf, Lebensstil, Geleistetes, Meinungen, Errungenschaften, Verhalten, ...), können wir uns die Nähe Gottes oder seine Liebe verdienen. Er liebt uns, weil er es will. Er will uns Leben schenken. Das ist der Wille Gottes. Ultimativ deutlich wird dies im Weg Jesu ans Kreuz und in der Auferweckung am Ostermorgen. Jesus, der Unschuldige, nimmt den Tod auf sich. Er tritt stellvertretend an die Stelle der Menschen und befreit sie zum Leben.


Leben von Jesus und mit Jesus


Der Glaube an Jesus Christus besteht nicht in irgendwelchen Leistungen unsererseits. Gleichwohl gehört zum Glauben an Jesus auch die Nachfolge. Unsere Lebensführung sollte zu dem passen, was unser Bekenntnis ist. Wir leben also von Jesus. Das befreit uns von allem anderen, das Urteile über uns aussprechen möchte. Wir leben aber genauso mit Jesus, indem wir in unserem Leben danach fragen, ob unser Verhalten, unser Reden, die Ausrichtung unseres Lebens zu ihm passen.


Dass wir von Jesus leben, ist unser Bekenntnis, das aber auch immer wieder angefochten ist. Ob in unserer Nachbarschaft, unseren Berufen, den Familien oder unserem öffentlichen Leben - immer wieder befinden wir uns in Zusammenhängen, in denen unser Wert eben nicht daran bemessen wird, ob wir zu Jesus gehören. Vielmehr werden wir nach unserer Leistung, unserem Aussehen, unserer Herkunft, Sprache, Vermögen, Meinung oder noch anderem bemessen und eingeordnet. Man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Und, ehrlich gesagt, es sind ja auch nicht immer nur die anderen, die ihre Regeln aufstellen und wir würden nur an Jesus denken. Wir haben Anteil daran, wie zB im Berufsleben gedacht und gehandelt wird. Wir passen uns oft auch an. Wir sind verwoben mit der Welt um uns herum.

Darum muss das scheinbar Selbstverständliche doch gefragt werden: Lebst du von Jesus? Und wenn ja, inwiefern wirkt dein Glaube in den verschiedenen Bereichen deines Lebens?


Mein Rat für heute: Traue Jesus etwas zu! Im Sinne des Verses aus dem Matthäusevangelium wäre es fatal, wenn die Frage nach unserem Glauben im Alltag zu einer Frage nach unserer Glaubensleistung verkommen würde. Genau darum geht es nämlich nicht. Es wäre ein Widerspruch in sich, wenn wir der Gnade vertrauen wollten und dann an der eigenen Leistung scheiterten, diese Gnade auch zu leben. Vertraue zunächst für dich darauf, dass Jesus Christus dich hält. Er hat dich gerettet, ohne Wenn und Aber. Für die Menschen um dich herum und die Situationen, in denen du dich befindest, traue genauso Jesus etwas zu. Bete für andere um dich herum. Ja, wir sind für andere ein Zeugnis, aber nicht als frommer Leistungsnachweis. Wenn du anderen ein gutes Wort der Gegenwart Gottes sagen kannst, tu es und warte nicht. Vor allem anderen aber lass das, was dich hält, auch für andere gelten. Befiehl sie der Liebe und Gnade Gottes an.


Eigentlich sind wir damit schon bei der Frage, wie wir mit Jesus leben. Gib die Liebe, die du erfahren hast, an andere weiter. Jesus hat es in Matthäus 22,37-39 im sog. Doppelgebot der Liebe deutlich gemacht. Das Verhältnis zu Gott, zu mir selbst und zu Menschen um mich herum kann nicht aufgetrennt werden. Sicher kann man nicht einfach den Schalter im eigenen Leben umlegen und alles wäre gut. Der Liebe Raum zu geben, ist ein lebenslanger Prozess, der in der ein oder anderen Situation auch schwer fallen kann, je nach dem, mit wem man es zu tun hat.


Können andere um dich herum spüren, dass du es nicht nötig hast, dich auf Kosten anderer zu profilieren, weil du Profil hast? Es ist ein Profil, dass Gott dir gibt. Und das wirkt sich aus in den verschiedenen Lebensbezügen, im Reden übereinander und Umgang miteinander, in der gegenseitigen Hilfe und Fürsorge, im gegenseitigen aufeinander achten.


Es ist wohltuend und aller Achtung wert, was zur Zeit trotz der Auswüchse des Virus Ego „2020“ an vielen Stellen von Menschen geleistet wird, um anderen zu helfen. Das reicht vom Dienst in Krankenhäusern und Ambulanzen über die Arbeit an Supermarktkassen und die Sicherstellung der täglichen Grundversorgung bis hin zu nachbarschaftlichen Hilfeleistungen. Überall investieren sich Menschen und setzen sich dem Risiko aus, angesteckt zu werden. An vielen Orten wird weit über das Maß normaler Arbeitszeiten hinaus gearbeitet. Auch viele Christinnen und Christen engagieren sich dort und im privaten Umfeld.


Und doch gilt das, was Jesus über sich selbst sagt, für alle. Es gilt für die, die sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen einen Vorteil vor anderen verschaffen wollen und für diejenigen, die sich für andere einsetzen und ihr eigenes Wohl hinten an stellen. Leben zu finden heißt Jesus kennenzulernen. Lasst uns das glauben und dem Raum geben in unserem Leben. Gott segne euch dazu.


Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden,
Hartmut Kraft

 

1 Margarete van Ackeren auf focus.de am 27.3.2020