Auf Adlers Flügeln getragen

Auslegung für den 19. April 2020 von Hartmut Kraft



Blickt nach oben! Schaut den Himmel an: Wer hat die unzähligen Sterne geschaffen? Er ist es! Er ruft sie, und
sie kommen hervor; jeden nennt er mit seinem Namen. Kein einziger fehlt, wenn der starke und mächtige Gott
sie antreten lässt.
Ihr Nachkommen von Jakob, ihr Israeliten, warum behauptet ihr: „Der HERR weiß nicht, wie es uns geht! Es
macht unserem Gott nichts aus, wenn wir Unrecht leiden müssen“? Begreift ihr denn nicht? Oder habt ihr es
nie gehört?
Der HERR ist der ewige Gott. Er ist der Schöpfer der Erde – auch die entferntesten Länder hat er gemacht. Er
wird weder müde noch kraftlos. Seine Weisheit ist unendlich tief. Den Erschöpften gibt er neue Kraft, und die
Schwachen macht er stark. Selbst junge Menschen ermüden und werden kraftlos, starke Männer stolpern und
brechen zusammen. Aber alle, die ihre Hoffnung auf den HERRN setzen, bekommen neue Kraft. Sie sind wie
Adler, denen mächtige Schwingen wachsen. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und sind nicht
erschöpft.
Jesaja 40,26-31


Sehnsucht trifft auf Skepsis
Es gibt Bibeltexte, die durch ihre starken Bilder eine Wirkungsgeschichte hinterlassen. Dieser oben gedruckte Abschnitt aus Jesaja 40 gehört dazu. Das Bild von den mächtigen Schwingen des Adlers, das Jesaja hier verwendet, ist
immer wieder in Liedverse gekleidet und vertont worden. Es gehört zu meinen Kindheitserinnerungen, dass der Chor der Gemeinde das Lied „Auf Adlers Flügeln getragen“ gesungen hat. Der Text stammt von Annie von Wethern-Viebahn (1884-1931) und der Chorsatz von Friedrich Hänssler (1892-1972). Das Lied, ein sogenanntes Heilslied, wurde mit feierlicher Ergriffenheit und viel Gefühl gesungen und berührte die Menschen tief.


Seit vielen Jahren wird es kaum mehr gesungen, weil uns schon lange das Pathos fremd geworden ist. In der Zeit nach den Heilsliedern wurde als Gegenbewegung zunächst manches getextet und komponiert, was kaum das Herz
angesprochen hat. Vor allem in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es das Bedürfnis nach rationaler Darstellung von Glaubensinhalten. Im Zusammenhang mit der Entstehung der Lobpreislieder kamen aber die alten Lieder neu in den Blick. Ihr Wert wurde neu entdeckt. Feierlichkeit und Pathos sind zwar nicht mehr das, was gesucht wird, aber Gewissheit des Herzens durchaus. Trendforscher und Soziologen, die die Entwicklung des kirchlichen Lebens verfolgen, sprechen heute von der „Generation Lobpreis“, die sich entwickelt hat.


Die Musikgeschichte veranschaulicht verschiedene Befindlichkeiten, die beim Lesen von Bibeltexten wie Jesaja 40 aufeinander treffen. Die tiefe Sehnsucht nach Halt und die Skepsis gegenüber falschen Versprechungen treffen aufeinander. Beides hat mit unserer Lebens- und Glaubenserfahrung zu tun.

Unser Leben ist angefochten. Nicht erst seit Corona wissen wir um die Vorläufigkeit all unserer Planungen und Vorhaben. Wir haben unser Schicksal nicht in der Hand. Wir können nicht sicher sein, dass alles so läuft, wie wir es uns ausgedacht haben. Unvorhersehbare Ereignisse, Folgen eigener Entscheidungen, Lebensentwicklungen, gesundheitliche Herausforderungen - vieles lässt uns immer wieder erkennen, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind und unser Leben endlich ist. Und wir entdecken, dass wir etwas brauchen, von dem wir leben, das uns Halt gibt.


Grundsätzlich ist dies nicht allein eine Einsicht des Glaubens. Die Frage nach dem Grundgerüst der eigenen Existenz und dem, was trägt, ist allen Menschen gemein. Jesus bringt es auf den Punkt, indem er fragt (Matthäus 6,27): „Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ Er stellt die Frage im Zusammenhang mit menschlichen Versuchen, dem eigenen Leben durch Besitz und Errungenschaften ein tragfähiges Gerüst zu geben. Jesaja sagt über „...alle, die ihre Hoffnung auf den HERRN setzen...“, sie seien „...wie Adler, denen mächtige Schwingen wachsen. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und sind nicht erschöpft.“ (Jesaja 40,31)

Der Satz des Propheten ist eine Zusage, eine Verheißung, die sich im Vollzug des Lebens mit Gott erweist. Es ist kein Lehrsatz, der im Sinne einer Verordnung zu glauben wäre. Der von Gott gewirkte Halt und das Geschenk der Glaubensstärke gründen nicht in einer letzten Leistung unsererseits, bei der wir gegen allen Augenschein eisern am Glauben an Gott festhalten würden. Vielleicht ist aber gerade in dieser Verwechselung der Grund für manchen Zweifel und manche Skepsis zu suchen.


Einer der historischen Gründe für die Ablehnung von Heilsliedern und die damit verbundenen Glaubenshaltungen liegt an einem zuweilen problematischen Umgang mit Gottes Zusagen. In der Geschichte der Gemeinden gab es immer wieder die Versuchung, Glaubensgewissheit einzufordern. Dies führte einerseits dazu, dass Zweifelnde kaum Platz für sich sahen und dass andererseits manchmal aus einem zuversichtlichen Glauben eine fromme Weltflucht wurde. Dabei möchte Gott unsere Herzen darin gewiss machen, dass er treu ist und uns nicht aus den Augen verliert. „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.“ steht in Römer 8,16. Glaubensgewissheit ist das Ergebnis der gnädigen Zuwendung Gottes, seines Wirkens an unserem Herzen. Zuversichtlich glauben zu können ist ein Geschenk.


Wie Gewissheit wachsen kann
Für Jesaja war klar: Es ist Gott, der mich festhält. Auf ihn kann ich mich unbedingt verlassen. Für Jesaja war aber genauso klar: Das fordert mich heraus. Wenn Gott so für mich da ist, kann ich nicht im Lehnstuhl sitzen und  dieHände in den Schoß legen. Ob ich das, was Gott für mich tut, auch erfahre, hängt auch von meiner Bereitschaft ab, mich darauf einzulassen. Dass der kraftvolle Adler, von dem Jesaja spricht, wirklich zum Himmel aufsteigt, liegt nicht nur an den Kräften und der Energie, die ihm geschenkt worden sind. Er muss auch seine Flügel aufspannen. Zuspruch und Anspruch sind für Jesaja zwei Seiten der selben Medaille. Genau das versucht er im Namen Gottes seinen Zeitgenossen zu sagen.
Die Menschen, zu denen Jesaja damals sprach, hatten es sich angewöhnt, im Alltag kaum nach Gott zu fragen. Sie
ließen Gott einen guten Mann sein. Als aber die äußeren Bedingungen krisenhaft zu werden begannen, fragten sie,
warum Gott ihnen das alles antun würde. Sie warfen Gott vor, dass sie ihm egal sein würden. Jesaja sagt ihnen aber
eindringlich, dass vielmehr sie es selbst sind, die Gott aus dem Blick verloren haben.
Die Zusage, dass Gott neu Kraft schenkt, bindet Jesaja in seiner Formulierung daran, auf Gott zu vertrauen. Wer auf
Gott vertraut, wird ihn erfahren. Dies gilt nicht, weil das Vertrauen ein gutes Werk oder eine zu erbringende Leistung
wäre, sondern weil wir im Vertrauen lernen, Gottes Stimme zu hören. Wer sich auf Gott einlässt, wird im Laufe
der Zeit immer mehr von ihm hören und bewusst mit ihm erleben. Unsere Ohren, unsere Augen, unser Gespür und
unsere geistliche Wahrnehmung werden sensibilisiert.
Der katholische Theologe Heribert Mühlen hat in den 70er Jahren einen der ersten Glaubensgrundkurse, die es gab,
mit dem Titel „Einübung in die christliche Grunderfahrung“ versehen. Glaube ist eben kein bloßes Für-richtig-halten
von irgendwelchen Grundsätzen. Glaube ist Beziehung. Und so, wie Menschen in einer Beziehung über Jahre
hinweg miteinander Erfahrungen machen und sich kennen lernen, ist auch die Beziehung zu Gott ein lebendiger
Vorgang, in dem wir wachsen und reifen.


Gerade eben haben wir Karfreitag und Ostern gefeiert. Wir haben es zwar nicht wie in den vergangenen Jahren miteinander tun können, aber vielleicht haben wir es darum auch intensiver erlebt. Wir glauben an Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist und der am Ostermorgen auferweckt worden ist. Wir glauben an genau das, was Jesaja Jahrhunderte vor diesen Geschehnissen gesagt hat: Du bist eingeladen, auf Gott zu vertrauen, der sich um Christi willen für dich einsetzt, dich segnet und dich begleiten will.


Lasst uns darum im Sinne der Worte Jesajas diesen Glauben investieren und erwartungsvoll auf Gott hoffen:
- Wir bitten, bitten für die Kranken in unseren Gemeinden und beten Segen und Bewahrung für sie.
- Wir bitten, dass Gott unsere älteren Geschwister begleitet und ihnen die Kraft für jeden Tag schenkt.
- Wir bitten, dass Gott alle begleitet, die sich in diesen Tagen mit viel Einsatz für andere einsetzen.
- Wir bitten, dass Gott unsere Gemeinden gut durch die aktuelle Situation führt.
- Wir bitten für die Verantwortlichen in den Regierungen und die wissenschaftlichen Fachkräfte, dass sie weise Entscheidungen in der aktuellen Krise treffen.
- Wir bitten für die Menschen in unseren persönlichen Lebensbereichen und im Umfeld unserer Gemeinden, dass sie Gott entdecken.


Mit herzlichem Gruß, in Christus verbunden,


Hartmut Kraft